Junge Menschen zu aktiven Mitgestalter*innen unserer Demokratie machen

Junge Menschen zu aktiven Mitgestalter*innen unserer Demokratie machen

Janine Winkler ist Geschäftsführerin des Landesjugendrings NRW und Mitglied des NRW-Nachhaltigkeitsbeirats. Wir haben sie gefragt, was passieren muss, damit junge Menschen sich weniger Sorgen um die Zukunft machen.
Portrait von Janine Winkler

Foto vom Landesjugendring NRW

Liebe Frau Winkler, es ist Ihre Aufgabe, die Interessen junger Menschen zu vertreten. Wie stellen Sie sich eine effektive Nachhaltigkeitspolitik vor, die jungen Menschen ihre Sorgen nimmt und ihr Vertrauen in demokratische Parteien erhöht?

Junge Menschen müssen die Erfahrung machen, dass ihre Stimme im politischen Prozess gehört wird und sich selbst als aktiv Mitgestaltende darin erleben. Studien wie die SINUS-Jugendstudie 2024 zeigen, dass junge Menschen sich durch Krisen wie den Klimawandel zunehmend belastet und bedroht fühlen. Gleichzeitig schildern viele das Gefühl, nicht wirklich etwas im politischen Geschehen beitragen zu können. Eine lebendige Jugendbeteiligung, die junge Menschen und ihre Vertretungen aktiv an nachhaltigkeitspolitischen Prozessen beteiligt, kann dieser Entwicklung entgegenwirken. Wichtig ist dabei allerdings, dass junge Menschen auf Augenhöhe beteiligt und ernst genommen werden. (Das Projekt #MitmischenNRW, ein Jugendbeteiligungsformat von Germanwatch e.V. und dem Landesjugendring NRW, kann als Beispiel für Jugendbeteiligung auf NRW-Landesebene dienen).

Wenn Sie über NRW nachdenken, wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen?

Fast jedes fünfte Kind oder Jugendliche*r in NRW wächst in (relativer) Armut auf. Die Folge für diese jungen Menschen ist, dass sie aus vielen Bereichen des gesellschaftlichen, aber auch kulturellen oder politischen Lebens ausgegrenzt werden und weniger partizipieren können.
Auch hinsichtlich der oben angesprochenen Jugendbeteiligungsformate ist das relevant: Wenn junge Menschen beteiligt werden, ist es essenziell, dass junge Menschen aus unterschiedlicher sozialer, aber auch finanzieller und kultureller Herkunft inkludiert werden. Die soziale Demografie in NRW ist von Vielfalt geprägt – diese muss auch in der Partizipation abgebildet werden. Dafür braucht es zielgruppengerechte Ansprache und Beteiligungsformate, die niedrigschwellig gestaltet sind.

Mehr als die Hälfte junger Menschen misstraut der Regierung.

Dies zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2024, in dem 18- bis 30-Jährige in Deutschland zu politischen Themen befragt wurden.

52 % von ihnen geben an, der Regierung zu misstrauen, 45 % misstrauen dem Parlament. Ergänzend zeigt die SINUS-Jugendstudie 2024, dass junge Menschen der Politik oft zuschreiben, die aktuellen Krisen nicht lösen zu können. Wenn junge Menschen die Chance bekommen, politisch und gesellschaftlich mitzugestalten, kann ihnen das ein Gefühl der Selbstwirksamkeit geben und ein Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen.

In der Diskussion um die Umsetzung der integrierten Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 2030 und auch der NRW-Nachhaltigkeitsstrategie sprechen wir sehr oft über Zielkonflikte. Die potenziellen Synergien gehen dabei nicht selten unter: Wo sehen Sie Synergien zwischen Nachhaltigkeitspolitik, Jugendpolitik und Demokratieförderung?

Neben der vorher bereits angesprochenen Jugendbeteiligung verknüpft transformative Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ebenfalls die drei Themenfelder. Der Fokus liegt auf einer Bildung, die junge Menschen befähigt, Strukturen mitzugestalten und aktiv mitzumischen. Dieser Ansatz bewegt sich weg von einem Bildungsverständnis, in dem junge Menschen lediglich als Konsument*innen oder passive Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden. In transformativer BNE geht es darum, Nachhaltigkeit aktiv selbst mitzugestalten – sei es in politischen Prozessen oder zum Beispiel im eigenen Kirchenverein oder der eigenen Universität. Junge Menschen erfahren dadurch Selbstwirksamkeit und werden zu aktiv mitgestaltenden Bürger*innen.

Sie sind Mitglied im NRW-Nachhaltigkeitsbeirat. Welche Rolle sehen Sie für den Beirat in der Umsetzung einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitspolitik für NRW?

Der NRW-Nachhaltigkeitsbeirat kann dank der vielfältigen Perspektiven seiner Mitglieder wertvolle Impulse in die Nachhaltigkeitspolitik geben – als Landesjugendring NRW bringen wir die Belange junger Menschen ein. Die Perspektiven, Bedarfe und Rechte dieser Zielgruppen immer wieder sichtbar zu machen und sich für diese einzusetzen – das ist der Beitrag, den der Beirat für eine ganzheitliche Nachhaltigkeitspolitik leisten kann.

Autor*innen:

Es handelt sich um ein schriftliches Interview.
Die Fragen stellte Michaela Roelfes, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel

Zeitenwende einer alternden Demokratie – ein Denkanstoß

Zeitenwende einer alternden Demokratie – ein Denkanstoß

Die demografische Entwicklung europäischer Gesellschaften bedeutet für heute und die Zukunft, dass immer mehr ältere Menschen Politik gestalten, von deren Auswirkungen vor allem jüngere Menschen länger betroffen sein werden. Braucht die repräsentative Demokratie eine neue Stimmgewichtung?

Von rechts: Aylin Lehnert (Germanwatch), Christina Thomas (Landesjugendring NRW), Oliver Krischer (Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen), Florian Winkler, Bettina Schröder, Simon Käsbach (Teilnehmende im Jugendbeteiligungsprojekt #MitmischenNRW); Foto: Germanwatch e.V.

„Der Jugend gehört die Zukunft, den Alten die Vergangenheit und dem Weisen der Augenblick“ schrieb der deutsche Schriftsteller Stephan Sarek im Jahr 1957. Der große Anteil an jungen Menschen, die sich in der Klima- und Umweltgerechtigkeitsbewegung engagieren, sowie unterschiedliche Jugendbefragungen zeigen deutlich: Die eigene Zukunft beschäftigt die jungen Menschen sehr.[1] Und die Zukunft bereitet den jungen Menschen zunehmend Sorge. Laut einer aktuellen Jugendstudie der TUI-Stiftung aus dem Jahr 2023 nehmen über die Hälfte der 7.085 befragten Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 26 Jahren an, dass es ihnen schlechter gehen wird, als noch ihren Eltern.[2] Gleichzeitig fanden Wissenschaftler*innen jüngst heraus, dass die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen nicht mit dem gesamtwirtschaftlichen monetären Wohlstand einer Gesellschaft steigt. Sogar das Gegenteil ist der Fall.[3] Dies spiegelt sich in den wahlentscheidenden Themen:
Während die Jüngeren vor allem Umwelt, Klima, soziale Sicherheit priorisieren, sind es bei der Altersgruppe über 70 Jahre vor allem Wirtschaft, Arbeit und soziale Sicherheit.[4] 

 

Wer trifft Entscheidungen und wer lebt mit ihren Folgen?

Die Bevölkerung altert, das trifft auf die EU, Deutschland und NRW gleichermaßen zu. Während Menschen immer älter werden und länger gesund und fit bleiben, wird die Anzahl der Kinder und Jugendlichen sowie der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) zurück gehen.[5] Mit dieser gesellschaftlichen Alterung steigt in einer repräsentativen Demokratie das politische Gewicht der Älteren. Verstärkend kommt hinzu, dass die Wahlbeteiligung gerade in der Gruppe der über-65-Jährigen besonders hoch ist.[6] Das bedeutet letztlich, dass immer mehr ältere Menschen Politik gestalten, von deren Auswirkungen vor allem die jüngeren Menschen betroffen sein werden.

Ein Drittel der EU-Bevölkerung

könnte im Jahr 2100 über 65 Jahre alt sein.


2022 waren knapp 20 % der EU-Bevölkerung über 65 Jahre alt, 1950 lag dieser Anteil noch bei 8 % und 1990 bei 12,7 %. Die demografischen Entwicklungen der 27 EU-Mitgliedsstaaten zeigen also deutlich eine Alterung der Gesellschaft.[7]Auch in NRW wird sich dieser Trend fortsetzen: Im Jahr 2050 könnte
das durchschnittliche Alter der Bevölkerung bei 46,2 Jahren liegen (2021: 44,3 Jahre, 2011: 43,6 Jahre[8])

 

Intragenerationale Gerechtigkeit ist ein entscheidendes Prinzip

In der Demokratie gilt die Regel: Wer vom politischen Handeln betroffen ist, soll in die politischen Entscheidungen einbezogen werden.[9] Wenn die Älteren die politische Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflussen und diejenigen, die es heute und vor allem auch in ferner Zukunft betrifft, kaum Einfluss haben, kann man fragen: Ist es gerecht, wenn die jüngere Generation an Wähler*innen mit den langfristigen Folgen der Entscheidungen von heute leben müssen, die überwiegend von der älteren Wahlgeneration getroffen werden? 

#MitmischenNRW

= echte Jugendbeteiligung, die gesehen, gehört und
von Entscheidungsträger:innen ernst genommen wird.


Im Rahmen eines Projekts von Germanwatch und Landesjungendring haben Bürger*innen NRWs zwischen 16 und 26 Jahren “Jugendforderungen zur Überarbeitung der NRW-Nachhaltigkeitsstrategie” ausgearbeitet und zur 9. NRW-Nachhaltigkeitstagung am 11.09.2023 an die Landesregierung NRW übergeben.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat am 24. März 2021 mit seinem Klimabeschluss neue Maßstäbe gesetzt: Klimaneutralität bekommt Verfassungsrang und rechtzeitiger Klimaschutz ist Grundrechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht betont, einer Generation darf nicht zugestanden werden, unter vergleichsweiser milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit den folgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Ließe sich dieses Prinzip in unserem politischen System stärker verankern? Bräuchte eine alternde und schrumpfende Gesellschaft, die heute im Schnitt drei Erden verbraucht [10], ein Stimmgewichtungsschema, welches diese sich verändernden Relationen mit bedenkt? Ein erster Schritt wäre sicherlich auch in NRW, wie im Koalitionsvertrag (2022-2027) vorgesehen, das Wahlalter bei Landtagswahlen von 18 Jahren auf 16 zu senken. Das könnte zudem die in NRW seit Jahren zu beobachtende schrumpfende Wahlbeteiligung von zuletzt 55,5% [11]wieder erhöhen, wenn es die Politik zudem schafft, die Themen junger Menschen zu adressieren.

Mona Treude, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel

Gastautor: Stefan Rostock,
Bereichsleiter Bildung für nachhaltige Entwicklung bei Germanwatch
& NRW-Fachpromotor für Klima & Entwicklung

Fußnoten

  1. Umweltbundesamt. (2020). Zukunft? Jugend fragen! (S. 1–47). https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publikationen/zukunft_jugend_fragen_broschuere_bf.pdf 
  2. Bertelsmann Stiftung. (2018). Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Vielfaeltige_Demokratie_gestalten/Buergerbeteiligung_Volksabstimmungen_Parlamentsentscheidungen.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023)
  3. Rudolf, R., & Bethmann, D. (2023). The Paradox of Wealthy Nations’ Low Adolescent Life Satisfaction. Journal of Happiness Studies, 24(1), 79–105. https://doi.org/10.1007/s10902-022-00595-2 
  4. “Wahlverhalten nach Altersgruppen”. (2021, September 26). https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/charts/umfrage-alter/chart_875440.shtml (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023) und “Welche Themen entscheiden die Wahl?” (2021, September 26). https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
  5. IT NRW (2022). Bevölkerungsentwicklung 2021 bis 2070 nach Altersgruppen am 1. Januar. https://www.it.nrw/statistik/eckdaten/bevoelkerungsentwicklung-nach-altersgruppen-am-1-januar-324  (zuletzt aufgerufen am 14.09.2023).
  6. European Parliament. Directorate General for Parliamentary Research Services. (2022). Demografischer Ausblick für die Europäische Union 2022. Publications Office. https://data.europa.eu/doi/10.2861/692156 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
  7. European Parliament. Directorate General for Parliamentary Research Services. (2022). Demografischer Ausblick für die Europäische Union 2022. Publications Office. https://data.europa.eu/doi/10.2861/692156 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
  8. Statista (2023): Durchschnittsalter der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen bis 2021. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1094133/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-nordrhein-westfalen/ (zuletzt aufgerufen am 14.09.2023).
  9.  Bertelsmann Stiftung (2018). Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen. Empfehlungen und Praxisbeispiele für ein gutes Zusammenspiel in der Vielfältigen Demokratie. Allianz Vielfältige Demokratie. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Vielfaeltige_Demokratie_gestalten/Buergerbeteiligung_Volksabstimmungen_Parlamentsentscheidungen.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
  10. MUNV NRW, (Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. (2023, August 1). Zahl der Woche: Hoher ökologischer Fußabruck durch Ressourcenverbrauch. https://www.umwelt.nrw.de/presse/detail/zahl-der-woche-hoher-oekologischer-fussabdruck-durch-ressourcenverbrauch-1690874143 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
  11. Statista (2023): Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen bis 2022. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3176/umfrage/wahlbeteiligung-bei-den-landtagswahlen-in-nordrhein-westfalen-seit-1950/ (zuletzt aufgerufen am 14.9.2023)