Kreislaufstrategien für die Versorgungssicherheit und nachhaltige Nutzung kritischer Rohstoffe

Kreislaufstrategien für die Versorgungssicherheit und nachhaltige Nutzung kritischer Rohstoffe

Kritische Rohstoffe sind Schlüssel für Zukunftstechnologien im Feld der erneuerbaren Energien und Elektromobilität. Die EU setzt auf mehr Inlandsproduktion und verstärktes Recycling. NRW kann seine Wirtschaft durch Kreislaufstrategien nachhaltig stärken.

Foto von Roberto Sorin auf Unsplash

Die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen und deren Bedeutung ist in den letzten Jahren stark gestiegen, denn sie bilden die Grundlage für viele Zukunftstechnologien – insbesondere auch im Zusammenhang mit der Energiewende. Zum Beispiel sind Lithium-Batterien unverzichtbar für Elektroautos, Seltene Erden werden für die Herstellung von Dauermagneten in Windturbinen benötigt.

Entwicklungen auf EU-Ebene

Auf europäischer Ebene gibt es bereits seit der Rohstoffinitiative im Jahr 2008 [1] Bemühungen, die Frage um kritische Rohstoffe und ihre Versorgungssicherheit zu adressieren. Die Debatte gipfelte im März 2023 im Vorschlag des Critical Raw Materials Act durch die EU-Kommission [2], der klare, ganzheitliche Ziele vorgibt: Während zum einen die zunehmende Förderung und Verarbeitung von Rohstoffen in der EU forciert wird, sollen bis 2030 mindestens 15 % des Jahresverbrauchs der EU auch durch Recycling gedeckt werden. Die EU setzt damit erstmals ein messbares Ziel für die Umsetzung einer Kreislaufstrategie in Bezug auf alle kritischen Rohstoffe.

Rasanter Anstieg der Lithiumnachfrage

Die globale Produktion von Lithium hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdreifacht [3]

Lithium wird hauptsächlich in Batterien verwendet. Durch den Ausbau der Elektromobilität der letzten Jahre ist die Nachfrage und damit die Produktion erheblich gestiegen. Es ist davon auszugehen, dass die Nachfrage auch in den nächsten Jahren weiter steigen wird.

Auswirkungen und Chancen in NRW

Als starkes Industrie- und Wirtschaftszentrum ist NRW besonders von kritischen Rohstoffen abhängig und ist direkt von der EU-Strategie betroffen. Branchen wie etwa die Chemie- und Elektroindustrie sowie die Metallverarbeitung sind von ihrer Verfügbarkeit abhängig. Die Reduzierung des Ressourceneinsatzes in der Produktion, die Verlängerung der Produktlebensdauer, die Wiederaufbereitung von End-of-Life Produkten sowie das Recycling von kritischen Rohstoffen – Kreislaufstrategien also – spielen in der Folge für die zukünftige Wirtschaftlichkeit dieser Sektoren eine wesentliche Rolle. Sie sind notwendig, um Industrien krisenfester und nachhaltiger zu gestalten [4]. Diese Aspekte sollten auch einen festen Platz in der Landeskreislaufwirtschaftsstrategie einnehmen, die in NRW aktuell erarbeitet wird.

Die Forschungs- und Innovationslandschaft in NRW bietet darüber hinaus vielversprechende Möglichkeiten, um neue Technologien, Recyclingverfahren und Substitutionslösungen zu entwickeln und somit die allgemeine Nachfrage nach kritischen Rohstoffen zu verringern. Dafür müssen Politik und Industrie jedoch eng zusammenarbeiten und einen gemeinsamen Fokus auf die Suche nach den nachhaltigsten Lösungen legen. 

Silvia Proff, Junoir Researcherin
im Forschungsbereich Kreislaufwirtschaft

 

Fußnoten

  1. Commission of the European Communities. (2008). Communication from the Commission to the European Parliament and the Council: The Raw Materials Initiative – Meeting Our Critical Needs for Growth and Jobs in Europe. Brussels. COM(2008) 699 final. https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0699:FIN:en:PDF
  2. European Commission. (2023). Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council Establishing a Framework for Ensuring a Secure and Sustainable Supply of Critical Raw Materials and Amending Regulations (EU) 168/2013, (EU) 2018/858, 2018/1724 and (EU) 2019/1020. COM(2023) 160 final. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52023PC0160.#Namen (#2021): „#Titel“, online unter: https://www.link.de/politik/deutschland/diesisteinlink (zuletzt aufgerufen am #.#.202#).
  3. U.S. Geological Survey. (1996-2023). Mineral Commodity Summaries 1996-2023. U.S. Geological Survey (U.S. Geological Survey, 1996-2023 [yearly publication]). https://www.usgs.gov/centers/national-minerals-information-center/mineral-commodity-summaries
  4. University of Cambridge Institute for Sustainability Leadership (CISL) and the Wuppertal Institute. (2023). Embracing circularity: A pathway for strengthening the Critical Raw Materials Act. Cambridge, UK: CLG Europe.
Local Heroes: Informationen für eine wirkungsstarke Klimaanpassung auf lokaler Ebene

Local Heroes: Informationen für eine wirkungsstarke Klimaanpassung auf lokaler Ebene

Lokale Klimafolgenanpassung kann besonders effektiv sein, wenn sie an die entsprechenden räumlichen Bedingungen angeglichen ist. Doch hierzu werden orts- und themenspezifische Informationen benötigt. Auch das Lokalwissen und die entsprechenden (Modell)Unsicherheiten sind hierfür zu berücksichtigen.

grüne Stadt

Foto von cuttersnap auf Unsplash

Wie kann eine Kommune mehr zum UV-Schutz ihrer Bevölkerung beitragen? Wie kann ein Waldbestand am Niederrhein möglichst klimastabil und standortgerecht angepasst werden? Und wie kann das Weserbergland seinen ökologischen Wasserzustand aufrechterhalten?
Um diese unterschiedlichen Fragen zu beantworten und sich effektiv an die Klimawandelfolgen anpassen zu können, brauchen Entscheidende spezifische Informationen, die stark vom Anpassungsfall und der jeweiligen örtlichen Begebenheit abhängen. Folgende Fragestellungen sind dabei relevant:

  1. Soll die Anpassung auf Ebene von Gemeinden, Landkreisen, Kommunen oder Regionen stattfinden?
  2. Was sagen die Klimaprojektionen für die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten voraus?
  3. Was sind die jeweiligen ortsspezifischen Risiken, die Karten nicht abbilden?

NRW besitzt acht klimatische Großlandschaften

Die Folgen des Klimawandels äußern sich je nach naturräumlichen Gegebenheiten unterschiedlich in NRW. So hat das Land NRW acht unterschiedliche klimatische Großlandschaften. Eine Unterteilung mit entsprechenden Factsheets findet sich hier.
Während die Klimaprojektionen beispielsweise für das Bergische -, Sieger- und Sauerland eine Zunahme des Niederschlags angeben, ist für das Niederrheinische Tiefland und die Bucht eine stärkere Hitzebelastung in den Ballungsräumen zu erwarten. Auf die Klimaanpassung im Wald, aber auch auf Städte und Gewässer haben diese regionsspezifischen Unterschiede durch Topographie und Landnutzung einen Einfluss. Daher ist es für Entscheidende zunächst hilfreich, die klimatischen Informationen der jeweiligen Großlandschaft zu kennen.

Übersicht über die acht Großlandschaften NRWs

Übersicht über die acht Großlandschaften NRWs, Abb. von Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW

Hilfreiche Informationen für eine wirkungsstarke lokale Klimaanpassung

Um Informationen zu spezifischen Themen und Ortschaften in NRW zu erhalten, können Entscheidende den Klimaatlas des LANUV frei nutzen. Er stellt vielfältige Karten mit Informationen zu Klima, menschlicher Gesundheit, Konzepten zur Klimaanpassung, Gründachkataster, etc. zur Verfügung. Waldbesitzende und Förster*innen finden zudem gesonderte Informationen auf waldinfo.nrw.

Entscheidende für kleine oder mittelgroße Städte können sich online auf dem Informationsportal Klimaanpassung in Städten (INKAS) des Deutschen Wetterdienstes (DWD) zur Stadtentwicklung beraten lassen. Darüber hinaus stellt der DWD stetig aktualisierte Klimaprojektionsdaten durch das Climate Data Center frei zur Verfügung. Auch das Climate Service Center Germany (GERICS) bietet prototypische und regionsspezifische Produkte sowie Dienstleistungen für die Klimaanpassung.

Herausforderungen der Lokalen Klimaanpassung

Bei der lokalen Klimaanpassung ist aber auch zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Projektionsdaten und Karten auf Modellen basieren und eine Reihe von Unsicherheiten mit sich bringen. Daher ist es wichtig, dass Landesbehörden diese Unsicherheiten und die dazugehörigen Hintergrundinformationen kommunizieren und hierzu beraten. Hier steht das LANUV als Anlaufstelle zur Verfügung. Zudem sollten bei der Entwicklung von Anpassungsmaßnahmen Zivilakteure mit spezifischen Lokalwissen einbezogen werden. Häufig kennen sie die Umgebung mit Gefahren und Potenzialen für die Anpassung besonders gut und können Risiken der Maßnahmen besser abschätzen.

Constanze Schmidt, Wissenschaftliche Referentin für strategische Themenfeldentwicklung Klimaanpassung

Fußnoten

Kriterien für grünen Wasserstoff

Kriterien für grünen Wasserstoff

Mitte Februar hat die EU-Kommission zwei Delegierte Rechtsakte zur Definition von erneuerbarem Wasserstoff vorgelegt. Wichtig für den nötigen Hochlauf der europäischen Wasserstoffwirtschaft ist, dass Rechtssicherheit als Basis für Investitionen geschaffen wird.

Die Nutzung von grünem Wasserstoff stellt in Deutschland eine zentrale Strategie zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 dar. Viele dafür nötige Rahmenbedingungen werden aktuell auf EU-Ebene festgelegt. Am 13. Februar 2023 hat die EU-Kommission nach über einjähriger Verzögerung im Rahmen der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (2018/2001) die finalen Vorschläge für zwei Delegierte Rechtsakte veröffentlicht. Diese Verordnungen legen fest

1. welche Kriterien der für die Elektrolyse genutzte Strom erfüllen muss, damit der produzierte Wasserstoff und daraus hergestellte andere strombasierte Energieträger als erneuerbar gelten.
2. nach welcher Methode die Treibhausgasemissionseinsparungen durch strombasierte erneuerbare sowie recycelte Energieträger berechnet werden (siehe auch hier für einen Überblick).

Ausgestaltung der Kriterien abhängig vom priorisierten Ziel

Besonders ausgiebig wurde dabei die Frage diskutiert, welches energiepolitische Ziel priorisiert werden sollte: Um den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft besonders effektiv zu beschleunigen, bietet sich die Lockerung der Strombezugskriterien für grünen Wasserstoff an, um mehr Projekte in die Wirtschaftlichkeit zu bringen. In der Folge ist der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft dann allerdings weniger eng an den Ausbau der erneuerbaren Energien gekoppelt: Die benötigten grünen Strommengen für die Wasserstoffproduktion erhöhen den absoluten Strombedarf. Dieser zusätzliche Strombedarf wird in Deutschland in der Regel durch nicht-erneuerbare Kraftwerke gedeckt, sodass höhere Emissionen im Stromsystem zu erwarten sind. Strengere Strombezugskriterien dagegen fördern den zusätzlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien, drosseln aber voraussichtlich das Tempo des Ausbaus der Wasserstoffwirtschaft und verzögern damit wichtige Emissionseinsparungen – vor allem in der Industrie. Inwiefern der eine oder andere Weg in Summe mehr Emissionen einsparen würde, ist wissenschaftlich kaum zu fassen.

EU-Kommission priorisiert Wasserstoffindustrie

Die Europäische Kommission hat sich nun für die Lockerung der Strombezugskriterien entschieden und damit die Hürden, grünen Wasserstoff zu produzieren, herabgesetzt. Diese faktische Priorisierung der Wasserstoffwirtschaft gegenüber dem zusätzlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien muss allerdings aus wissenschaftlicher Sicht zwingend mit einem effektiven Monitoring flankiert werden. Stellt sich heraus, dass der für die grüne Wasserstoffproduktion benötigte Ausbau der erneuerbaren Energien nicht mit dem Ausbau der Wasserstoffwirtschaft mithalten kann, muss die Politik nachsteuern. Der Anspruch – auch an die NRW-Landespolitik – schnell und effektiv die rechtlichen und planerischen Rahmenbedingungen für den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Stromerzeugungskapazitäten zu schaffen, steigt damit weiter.

Rechtssicherheit für Investitionen wird benötigt

Eine politische Entscheidung wird hier in jedem Fall dringend benötigt. Denn die fehlende Rechtssicherheit stellt auch für die nordrhein-westfälische Industrie ein Investitionshemmnis dar. Insbesondere die in NRW zahlreich vertretenen, energieintensiven Unternehmen, allen voran der Stahl- und Chemieindustrie, sind für ihre Transformation auf Wasserstoff angewiesen.
Ob die finalen Vorschläge der EU-Kommission in Kraft treten werden oder nicht, darüber entscheiden das EU-Parlament und der Rat in den nächsten Monaten. Sie können die Vorschläge annehmen oder ablehnen – Änderungen sind nicht möglich. Wie diese Entscheidung ausfällt, ist aufgrund kontinuierlicher inhaltlicher Kritik aus den Reihen des EU-Parlaments aktuell noch unklar. Einigkeit herrscht angesichts der Dynamik des internationalen Wasserstoffhochlaufs zumindest darin, dass die EU schnellstmöglich langfristig verlässliche Rahmenbedingungen für Investitionen in klimafreundlichen Wasserstoff schaffen muss.

Katharina Knoop, Researcherin
im Forschungsbereich Strukturwandel und Innovation

Referenzen

  1. Deutsche Energie-Agentur (2023): Delegierte Rechtsakte der Europäischen Kommission veröffentlicht: Kompromiss für grünen Wasserstoff gefunden, Meldung vom 14.02.2023, online unter: https://www.dena.de/newsroom/meldungen/2023/delegierte-rechtsakte-h2-veroeffentlicht/ (zuletzt aufgerufen am 17.03.2023).
  2. Europäische Kommission (2023): Kommission legt Vorschriften für erneuerbaren Wasserstoff fest, Pressemitteilung vom 13.02.2023, online unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_23_594 (zuletzt aufgerufen am 17.03.2023).
  3. Kasten, P., Heinemann, C. (2019): Kein Selbstläufer: Klimaschutz und Nachhaltigkeit durch PtX – Diskussion der Anforderungen und erste Ansätze für Nachweiskriterien für eine klimafreundliche und nachhaltige Produktion von PtX-Stoffen, Impulspapier im Auftrag des BUND im Rahmen des Kopernikus-Vorhabens „P2X“, Berlin, online unter: https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Impulspapier-soz-oek-Kriterien-e-fuels.pdf (zuletzt aufgerufen am 27.03.2023).
  4. Tagesspiegel Background Energie und Klima (2023): Grüner Wasserstoff: EU-Kommission will Atomwasserstoff als grün klassifizieren, Meldung vom 14.02.2023 (kein öffentlicher Zugriff).
  5. Tagesspiegel Background Energie und Klima (2023): EU-Abgeordnete erwägen Veto gegen Wasserstoffregeln, Meldung vom 10.03.2023 (kein öffentlicher Zugriff).
Keep it simple! – Frugale Innovationen

Keep it simple! – Frugale Innovationen

Frugale Innovationen bezeichnen Entwicklungen, die anwendungs­orientiert, kostengünstig, leicht zu bedienen, zu reparieren und ressourcen­schonend sind. Sie sind unerlässlich für einen zukunfts­fähigen Industrie­standort NRW.

Während die führenden Unternehmen der Welt sich zunehmend auf Luxusprodukte und überladene Innovationen für High-Income Länder konzentrieren, fehlen Lösungen, die erschwinglich sind und genau das tun, was Nutzer*innen brauchen.[1] Genau solche Innovationen sind aber essentiell für eine nachhaltige Entwicklung, die ökologische, soziale und ökonomische Ziele gleichermaßen befriedigen kann. Man nennt diese Innovationen “frugal” und diskutiert sie nicht zuletzt im Kontext der Circular Economy.

Frugale Innovation für Nordrhein-Westfalen

Wie kann ein nachhaltiger sowie ressourcen- und energieschonender Umgang mit Sachgütern in der Zukunft gewährleistet werden? Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft für welche Sachgüter leisten?[2] Hier ist insbesondere das produzierende Gewerbe gefragt, das NRW stark prägt. Als Teil der Circular Economy können frugale Innovationen Ressourceneinsparungen verstärken und gleichzeitig die Erschließung neuer Märkte unterstützen. Spannend ist vor allem aber, dass das Nachdenken über frugale Innovationen eine Reflektion auslöst: Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft leisten?

“FRUGAL” ist auch ein Akronym

F = functional, R = robust, U = user friendly,
G = growing, A = affordable, L = local

Eigentlich bedeutet das Wort „frugal“ einfach, schlicht oder karg.
Doch im Kontext der „Frugalen Innovation“ erhält es eine zusätzliche Bedeutung.
Als Akronym beschreibt es die Kernprinzipien der Frugalen Innovation.

In NRW bekommt der Ansatz der Frugalen Innovation zunehmend Aufmerksamkeit. Das Bundesland verfügt wie kaum eine Industrieregion weltweit über die notwendigen Potenziale, durch zirkuläres Wirtschaften sowohl zum Klima- und Ressourcenschutz als auch zum Erhalt seiner wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit beizutragen.[3] In unterschiedlichen Veranstaltungs- und Vernetzungsangeboten (z. B. der Kongress „zirkulär.frugal.innovativ“ und die Initiative „Open Innovation City“) entstehen im Moment in Zusammen-arbeit von Wissenschaft, Wirtschaftsförderern und Unternehmen Ansätze, um das Thema als richtungsweisend auf der regionalen Agenda zu etablieren und Unternehmen zu motivieren, neue Formen der Innovation und des nachhaltigen Wirtschaftens zu erproben.

Für die Realisierung braucht es neue Wege und Formen der Zusammenarbeit sowie Allianzen von Wissen-schaft & Forschung, regionaler Wirtschaft und weiteren Akteur*innen. Dadurch kann ein inter-disziplinärer Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gefördert, der Wissenstransfer ermöglicht und es können gemeinsame Kompetenzfelder aufgebaut werden, um eine zukunftsgerechte Transformation der Regionen zu fördern.

Eva-Maria Goertz, Junior Researcherin
im Forschungsbereich Stoffkreisläufe

Dr. Holger Berg, stellv. Abteilungsleiter und Co-Leiter
des Forschungsbereichs Digitale Transformation

Fußnoten

  1. Krohn, Malte (2022): The Crucial Role of Mindsets in Innovation Efforts. Opening the Black Box in the Context of Frugal Innovation. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39970-2 . Springer Gabler Wiesbaden.
  2. Wohlfart, Liza/ Bünger, Mark/ Lang-Koetz, Claus/ Wagner, Frank (2016): Corporate and Grassroot Frugal Innovation: A Comparison of Top-Down and Bottom-Up Strategies. URL: https://www.engineering-produktion.iao.fraunhofer.de/content/dam/iao/tim/Dokumente/Wohlfart_et_al_TIMReview_April2016.pdf . In: Technology Innovation Management Review, April 2016, Volume 6, Issue 4. (zuletzt abgerufen am 22.02.2023).
  3. Wuppertal Institut (2022): NRW 2030: Von der fossilen Vergangenheit zur zirkulären Zukunft. URL: https://wupperinst.org/fa/redaktion/downloads/projects/NRW2030_Zirkulaere_Zukunft.pdf  (zuletzt abgerufen am 27.01.2023).

Der Industrieplan für den Europäischen Green Deal

Der Industrieplan für den Europäischen Green Deal

Ist der neue Industrieplan der Europäischen Union eine adäquate Antwort auf die Investitionspolitik der USA und Chinas? Was bedeuten die industriepolitischen Ziele der EU für NRW? Eine Einschätzung von Prof. Dr. Manfred Fischedick.

Im Herbst 2022 hat die US-Regierung mit der Verabschiedung des 370 Mrd. $ schweren Inflation Reduction Act (IRA) für große Aufregung gesorgt. Vornehmlich sollen damit Investitionen in grüne Zukunftstechnologien angereizt werden. Dabei ist die Inanspruchnahme von Vergünstigungen aus dem IRA daran geknüpft, dass die Produktion vor Ort stattfindet. Auch China hat mittlerweile angekündigt, rund 280 Mrd. $ in saubere Technologien investieren zu wollen. Gelingt es beiden Staaten, damit ein attraktives Investitionsklima zu gestalten, besteht die Gefahr der Abwanderung zentralerer Zukunftsindustrien aus Europa. 

Die Europäische Antwort

Mit dem am 01.02.2023 veröffentlichten Europäischen Industrieplan (Green Deal Industrial Plan) versucht die EU-Kommission eine Antwort auf die beiden Programme zu geben. Dabei steht, anders als in den USA, zwar keine protektionistische Grundhaltung im Vordergrund. Dennoch kann von einem bemerkenswerten Paradigmenwechsel in der bisher eher zurückhaltenden Europäischen Industriepolitik gesprochen werden. Die EU-Kommission zielt vor allem auf eine Beschleunigung in der Umsetzung ab und setzt dafür auf vier zentrale Säulen:

  • Die Festlegung von konkreten Produktionszielen für zentrale Zukunftstechnologien über ein Netto-Null-Industrie-Gesetz (Net Zero Industry Act) im Verbund mit einer Vereinfachung der regulatorischen Rahmenbedingungen zu deren Umsetzung.
  • Die Beschleunigung von Investitionen durch – zumindest temporär – weniger strenge Beihilferegelungen. Dadurch wird es den Mitgliedstaaten erleichtert, spezifische Förderprogramme aufzulegen (z. B. für Ansiedlung von Unternehmen).
  • Eine Qualifizierungsoffensive (European Year of Skills), um die Unternehmen durch ausreichend qualifizierte Fachkräfte in die Lage zu versetzen, Veränderungen auch umsetzen zu können.
  • Der Ausbau der globalen Kooperationsbeziehungen und Verankerung der grünen Transformation in Freihandelsabkommen sowie die Entwicklung eines Critical Raw Materials Club, der den fairen Zugang zu knappen Rohstoffen auf globaler Ebene sichern soll.

Damit setzt die EU Kommission wichtige Eckpunkte fest. Es erscheint aus heutiger Sicht aber noch unsicher, ob die Maßnahmen der EU mehr als ein wichtiges politisches Signal sind, zumal zunächst nicht vorgesehen ist „frisches“ Geld bereitzustellen, sondern insbesondere auf nicht ausgeschöpfte Mittel aus dem Corona Wiederaufbaufonds zurückgegriffen wird. Zudem sollen viele Detailregelungen erst im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.

NRW im Umsetzungswettbewerb

Als Industrie- und Technologieland ist NRW ganz besonders von der Konkurrenzsituation mit den beiden großen Absatzmärkten USA und China betroffen und muss sich überlegen, wie die nationalen und europäischen Maßnahmen seitens des Landes durch eine kluge Industrie- und Standortpolitik flankiert werden können. Im aktuellen Koalitionsvertrag ist die explizite Absicht der Landesregierung formuliert, die erste klimaneutrale Industrieregion Europas werden zu wollen Dieses Narrativ kann helfen Kräfte zu bündeln und fortschrittliche Unternehmen anzusiedeln ist aber kein Selbstgänger. Das Land ist daher gefordert, bei der Vernetzung der Akteure entlang der Wertschöpfungsketten sowie dem Aufbau essentieller Infrastrukturen für die Umsetzung der Transformation mitzuhelfen. Mit dem Zusammenschluss von Landesregierung, Industrie und Wissenschaft in der Initiative IN4Climate (Initiative für eine klimaneutrale energieintensive Industrie) sowie der Formulierung einer landesspezifischen Wasserstoffstrategie und einer Carbon Management Strategie setzt NRW hierfür wichtige Akzente.

Internationale Industriepolitik, Klimaschutz und Versorgungssicherheit.

Lesen Sie dazu auch eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. Manfred Fischedick, in der er den internationalen Umsetzungswettbewerb vor dem Hintergrund von Klimaschutznotwendigkeiten und Energieversorgungswettbewerb einordnet.

Flankierende Maßnahmen auf Bundeseben notwendig

Auch von der Bundesebene sind weitere flankierende Maßnahmen zu erwarten, um die eigene Position zu stärken. Bei der Festlegung der Instrumente steht in einem Exportland die Konformität mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) im Mittelpunkt. Einen direkten Protektionismus deutscher Hersteller wird es daher nicht geben. Indirekt können die Unternehmen des Landes aber profitieren, wenn z.B. Fördermittel oder die Möglichkeit, sich an Ausschreibungen zu beteiligen, an bestimmte Qualitätskriterien (z.B. Nachhaltigkeits- bzw. Klima- oder Umweltvorgaben, Ausbildungsquote) geknüpft werden, die praktisch nur durch vor Ort angesiedelte Unternehmen erfüllt werden können. Entstehen würde hierdurch eine Win-Win-Situation, da neben der Sicherstellung, dass die Wertschöpfung im Land bleibt, höhere Nachhaltigkeitsziele verankert werden.

Unabhängig davon stellt sich im Moment sicher die Frage, inwieweit der aktuelle Umsetzungswettbewerb zu einer Beschleunigung des globalen Transformationsprozesses führen kann, d.h. quasi als Booster wirkt. Oder, ob eine Bündelung der Kräfte (z.B. im Rahmen des gemeinsamen Aufbaus einer globalen Wasserstoffinfrastruktur) deutlich wirkmächtiger wäre. Grundsätzlich ist zunächst aber einmal positiv zu werten, dass die USA sich mit dem IRA nun auch auf der nationalen Ebene gegenüber der notwendigen Ausbaudynamik von erneuerbaren Energien öffnen und China seine ambitionierten Ausbauziele weiter fortsetzt. Die hierdurch ausgelösten globalen Investitionen können zu einer Innovationsdynamik führen und in der Konsequenz zu technologischen Verbesserungen und signifikanten Kostendegressionen, von denen alle (auch die Länder des globalen Südens) profitieren.

Prof. Dr. Manfred Fischedick

Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer

“Wicked problems” im urbanen Raum lösen

“Wicked problems” im urbanen Raum lösen

Seit Jahren wird im urbanen Raum alles integriert gedacht: Kommunale Klimaschutz-, Verkehrs- oder Flächenentwicklungskonzepte, Konzepte zur Gesundheitsförderung und zur Arbeitsförderung, Stadtentwicklungskonzepte – um nur einige Beispiele zu nennen. All diese Konzepte erheben den Anspruch, die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.

Foto: Victor, Unsplash

Foto: Victor auf Unsplash

Seit Jahren wird im urbanen Raum alles integriert gedacht: Kommunale Klimaschutz-, Verkehrs- oder Flächenentwicklungskonzepte, Konzepte zur Gesundheitsförderung und zur Arbeitsförderung, Stadtentwicklungskonzepte – um nur einige Beispiele zu nennen. All diese Konzepte erheben den Anspruch, die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.

Es geht um Paradigmen

In der Realität ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit oftmals eklatant. Straßen sind hier ein gutes Beispiel. Im Paradigma der autogerechten Stadt werden sie vor allem als Verkehrswege für motorisierte Verkehrsmittel wahrgenommen und geplant. Das hat bekannte Folgen für Klima und Umwelt, aber auch Sicherheit, Gesundheit und Aufenthaltsqualität. Es gibt gute Gründe für Veränderung. Aber ein Paradigma sitzt tief und so ist die Veränderung schleichend, obwohl viele gute Beispiele – nicht zuletzt im NRW-Landeswettbewerb “Zukunft Stadtraum” – zeigen, wie eine zukunftsfähige Gestaltung des öffentlichen Raums aussehen und unterschiedliche Ziele der nachhaltigen Entwicklung gleichzeitig adressieren kann: Der für den Umgang mit dem Klimawandel notwendige Ausbau der blau-grünen Infrastrukturen erfordert zum Beispiel eine Entsiegelung von Straßenraum und damit in Folge eine Reduzierung von Parkraum, die wiederum mittelfristig eine erwartbare Reduktion des Aufkommens an Verkehrswegen mit privaten Pkws zur Folge haben dürfte. Das wiederum schafft Platz, Nahrerholungsqualität und mehr Sicherheit für nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmende sowie reduziert Luftschadstoffe, Emissionen und Verkehrslärm.

Wicked problems

würde man im Deutschen vermutlich “vertrackte” oder “verzwickte” Probleme nennen. So richtig gut lässt sich dieser Begriff jedoch nicht übersetzen und ist daher in seiner englischen Form zum geflügelten Wort geworden. Als “wicked” werden häufig solche Probleme bezeichnet, die sich durch ein hohes Ausmaß an Komplexität auszeichnen. Es ist jedoch genau diese begriffliche Rahmung, die eine Suche nach Lösungen erschweren kann. [1]

Die intelligente und nachhaltige Umgestaltung von öffentlichem Raum kann mit Fug und Recht als “wicked problem” bezeichnet werden: Sie ist gekennzeichnet von vielfältigen Nutzungsansprüchen und Zielvorstellungen, von hoher Komplexität und von Planungsunsicherheit. [1]  Daran scheitert die Idee der normativen, fachlichen, politischen und räumlichen Integration in der Realität bis heute zu oft. Während die fachliche und räumliche Integration oftmals nur im lokalen Einzelfall sinnvoll gestaltet werden kann, muss die normative und politische Integration auf übergeordneter Ebene erfolgen: Es bedarf eindeutiger, langfristig angelegter, politischer Rahmenbedingungen, die im Sinne der nachhaltigen Entwicklung synergieorientierte Systemansätze priorisieren und so Unsicherheiten reduzieren. Hier ist insbesondere die Landesregierung im Rahmen ihrer Raumordnungs- und Landesplanungskompetenz gefragt, die ihr die Möglichkeit gibt, die landesplanerischen Vorgaben systematisch auf Nachhaltigkeit auszurichten. [2]

Dr. Steven März, Senior Researcher
im Forschungsbereich Stadtwandel

Fußnoten

  1. Schwedes, Oliver und Alexander Rammert (2020): “Was ist Integrierte Verkehrsplanung?
    Hintergründe und Perspektiven einer am Menschen orientierten Planung” , IVP Discussion Paper Nr. 2020 (2), online unter: http://hdl.handle.net/10419/218899 (zuletzt aufgerufen am 08.03.2023).
  2. Goppel, Konrad (2018): “Landesplanung, Landesentwicklung”, in: ARL – Akademie der Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung, S. 1307-1322, online unter: https://www.arl-net.de/system/files/media-shop/pdf/2023-01/Landesplanung%2C%20Landesentwicklung.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.03.2023).

Kosten der Umsetzungslücken beim Klimaschutz

Kosten der Umsetzungslücken beim Klimaschutz

Die Kosten-Nutzenrechnung von Klimaschutz ist wissenschaftlich nicht trivial, denn sowohl die Berechnung der monetären Kosten von Klimaschutz, als auch der globalen Erwärmung und ihrer Folgen unterliegen hohen Unsicherheiten.

730 Milliarden Euro

Schäden durch den Klimawandel

erwartet beispielsweise Deloitte in den nächsten 50 Jahren bei ineffektiver Klimapolitik für Deutschland.

Eine aktuelle Studie [1] geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Kosten von CO2- Emissionen („social costs of CO2“ = SCCO2) aufgrund vereinfachter und unvollständiger Annahmen in bisher verwendeten Modellen unterschätzt wurden. Es sind insbesondere unvorhersehbare Extrem-wetterereignisse und das Auftreten wissenschaftlich noch nicht valide greifbarer, ökonomischer Rückkopplungsschleifen, die den Wissenschaftler*innen Sorgen bereiten. Die Klima-forschung weiß schon lange, dass die direkten Folgen der globalen Erwärmung – und damit auch ihre direkten gesellschaftlichen Kosten – im Globalen Süden wesentlich schwerwiegender sein werden.[2] Der Umfang und die geografische Verteilung der indirekten sozialen und ökonomischen Kosten, wie zum Beispiel die gesundheitlichen Auswirkungen von Hitzewellen und die oben erwähnten Rückkoppelungsschleifen in der Wirtschaft, ist dagegen für den Globalen Norden und damit auch für das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit hoher Unsicherheit verbunden.

Transformation vs. Disruption

In einem eindrucksvollen Vergleich zeigt das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) am Beispiel der Covid-19 Pandemie, welche Kosten maximal disruptive Ereignisse – wie sie auch durch das Erreichen von Kipppunkten beim Klimawandel entstehen würden – im Vergleich zu den Kosten gezielter Transformationsinvestitionen haben können: „Den absoluten Einsparungen von 71 Millionen Tonnen CO2 steht ein Rückgang des BIP von 117 Milliarden Euro gegenüber“.[3] Daraus werden CO2-Vermeidungskosten von rund 1.645 Euro pro Tonne für den Lockdown abgeleitet. Demgegenüber stünden wesentlich geringere CO2-Vermeidungskosten von unter 100 Euro pro Tonne für viele der bereits verfügbaren Klimaschutztechnologien.

Nicht nur Kosten, sondern Chancen

Investitionen in den Klimaschutz sollten neben der Schadensvermeidung auch vor dem Hintergrund ihrer mittel- und langfristigen Effekte auf den Wohlstand und das Bruttoinlandsprodukt bewertet werden. So manifestieren sich die weltweit zugesagten Verschärfungen der Klimaschutzziele, im Rahmen der ver- gangenen UN-Klimakonferenz („COP26“), in einer tendenziell positiven Bewertung der zukünftigen Absatzchancen klima- freundlicher Produkte und Dienstleistungen durch deutsche Unternehmen. Eine Studie von Deloitte aus dem Jahr 2021 kommt sogar zu dem Schluss, dass Deutschland „eine der ersten Regionen in Europa sein“ wird, die von den wirtschaftlichen Vorteilen ambitionierter Klimaschutzmaßnahmen profitieren kann, wenn es sich „frühzeitig dafür entschieden hat“.[4]

Michaela Roelfes, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel

Dr. Sascha Samadi, Senior Researcher
im Forschungsbereich Sektoren und Technologien

  1. Kikstra, Jarmo S. et al. (2021): „Social costs of carbon dioxide under climate-economy feedbacks and temperature variability”, in: Environmental Research Letters, Vol. 16, online unter: https://doi.org/10.1088/1748-9326/ac1d0b (zuletzt aufgerufen am 09.11.2021).
  2. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, 2021): Annex I: Global to Regional Atlas. Climate Change 2022. Impacts, Adaptation and Vulnerability, online unter: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/downloads/report/IPCC_AR6_WGII_Annex-I.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  3. Fischer, Andreas und Sarah Fluchs (2021): „Investitionen in den Klimaschutz: Die Kosten des Wartens“, IW-Kurzbericht 46/2021, S. 3, online unter: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2021/IW-Kurzbericht_2021-Kosten-des-Wartens.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  4. Deloitte (2021): Der Wendepunkt – Wie Deutschland vom Kampf gegen den Klimawandel profitieren kann, online unter: https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/global/Documents/gx-tp-executive-summary-germany.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.01.2022).

Kommentar: Keine Renaissance der Atomkraft

Kommentar: Keine Renaissance der Atomkraft

Derzeit wird von verschiedenster Seite in Deutschland der Ruf nach einem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie – zur Beschleunigung des Klimaschutzes, so die Argumentation – laut. Manfred Fischedick sagt: „Die Kernenergie kann aus heutiger Sicht keinen substantiellen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten.“

Portrait von Manfred Fischedick

Foto: Wuppertal Institut

Die mit dem kriegerischen Übergriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ausgelöste Debatte um die Versorgungssicherheit wird von den Befürwortern der Kernenergie als weiteres Argument angeführt. Auf der europäischen Ebene hat die Einbindung der Kernenergie in die EU-Taxonomie und die damit verbundene Einordnung als nachhaltige Investitionen für große Aufmerksamkeit und Kontroversen gesorgt. Selbst wenn zentrale Fragen wie Restrisiko, ungeklärte Endlagerung und Proliferation zunächst außer Acht gelassen werden würden, dann gibt es zu jedem der drei möglichen Ansätze (Verlängerung der Laufzeit, Neubau von Kernkraftwerken und Einsatz von sogenannten Small Modular Reactors) zum Ausstieg aus dem Ausstieg jeweils handfeste wirtschaftliche und sicherheitstechnische Gegenargumente.

Gegenargumente

Erstens ist eine Verlängerung der Laufzeit bestehender Atomkraftwerke in Deutschland insofern unrealistisch, da eine substantielle Verlängerung, im Vergleich zum 2011 beschlossenen Ausstiegsfahrplan, zu ganz erheblichen Kosten für Ertüchtigung und gegebenenfalls sogar sicherheitstechnische Nachrüstung der Kraftwerke führen würde. [1] Darüber hinaus haben alle Kernkraftwerksbetreiber unisono signalisiert, dass sie an einer Laufzeitverlängerung keinerlei Interesse und ihre Investitionsprioritäten längst auf den Ausbau erneuerbarer Energien umgestellt haben.[2]

Zweitens zeigt das finnische Beispiel – Olkiluoto 3 – für den Neubau von Kernkraftwerken, dass gewachsene Sicherheitsbedenken und Schwierigkeiten beim Bau nicht nur den Planungs- und Errichtungszeitraum dramatisch verlängern, sondern auch die ursprünglichen Kosten vervielfachen. [3] Ähnlich in Flamanville in Frankreich, wo die Baukosten sich gegenüber der ursprünglichen Kalkulation vermutlich versechsfachen werden.

12,5 Jahre

Verzögerung

sind laut World Nuclear Industry Status Report bei aktuellen Projekten zum Bau von Atomktraftwerken im Durchschnitt zu ertwarten. #LINK#

Drittens ist der kommerzielle Einsatz von sogenannten Small Modular Reactors, das heißt kleinen und modularen Reaktoren, bei einigen Technologieansätzen noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entfernt und ihre sinnvolle Einsetzbarkeit grundsätzlich fraglich: Individuell betrachtet haben SMR durch das geringere radioaktive Inventar zwar einen sicherheitstechnischen Vorteil, dieser werde aber, so eine Studie für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), durch die geplante Errichtung in räumlicher Nähe zu Endverbraucher*-innen sowie die notwendige, große Anzahl an Reaktoren für eine substantielle Leistungsrealisierung aufgehoben. Und auch ihre Wirtschaftlichkeit könne nur durch den Verzicht auf die Diversität von Sicherheitssystemen erreicht werden.[4] Nicht zuletzt ist die Überwachung einer ausschließlich zivilen Nutzung des radioaktiven Materials durch die Internationale Atomenergiebehörde bei einer derartigen Dezentralisierung nicht sicherzustellen.

Fazit

In der Zusammenschau lässt sich festhalten: Die Kernenergie kann aus heutiger Sicht keinen substantiellen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten. Sie ist ökonomisch alternativen Optionen – wie den erneuerbaren Energien – unterlegen, mit hohen Betriebsrisiken verbunden sowie mit einer ungeklärten Endlagerfrage und Proliferationsrisiken konfrontiert. Vor allem aber ist sie mit derart hohen Vorlaufzeiten verbunden, dass sie als Lösungsoption für den Klimaschutz zu spät käme. Im Gegenteil, wer heute die Debatte um die Kernenergie anfeuert, erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst: Das „Heilsversprechen“ läuft Gefahr dazu beizutragen, den Aufbau nachhaltiger, auf erneuerbaren Energien basierender Strukturen abzubremsen. 

Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick
Präsdient und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts

Fußnoten

  1. Ludwig, Thomas (2021): Brauchen wir die Atomkraft doch länger? Kölnische Rundschau, online unter: https://www.rundschau-online.de/news/politik/rundschau-debatte-des-tages-brauchen-wir-die-atomkraft-doch-laenger– 39123478?cb=1639137591021& (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021)
  2. Flauger, Jürgen & Kathrin Witsch (2021): „Kernenergie hat sich für Deutschland erledigt“ – Warum die Energiekonzerne keine Rückkehr der Atomkraft wollen. Handelsblatt, online unter: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/energiewende-kernenergie-hat-sich-fuer-deutschland-erledigt-warum-die-energiekonzerne-keine-rueckkehr-der-atomkraft-wollen/27781670.html?ticket=ST-6193505-bAuRLrPLwqEDUuems36I-cas01.example.org (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  3. Gislam, Steven (2021): After Long Delays Europe’s Largest Nuclear Reactor Gets Go-Ahead In Finland, online unter: https://industryeurope.com/sectors/energy-utilities/after-long-delays-europes-largest-nuclear-reactor-gets-go-ahead/ (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  4. Pistner, Christopf et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors), online unter: https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/berichte/kt/gutachten-small-modular-reactors.pdf;jsessionid=7E81BD2EF79AC66D8A24CFD976F2A800.1_cid349?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).