Ambitionierte Maßnahmen zum Klimaschutz werden in Europa spätestens seit den Protesten der sogenannten Gelbwesten in Frankreich 2018/2019 mit einem erhöhten Risiko für das Erstarken von (rechts-)populistischen Parteien und einer Sorge um die demokratische Stabilität assoziiert. Im Kern dieser wahrgenommenen Gefahr liegt eine als ungerecht empfundene Verteilung der Kosten und Nutzen anstehender Transformationen.

Foto eines Protest der Gelbwestenbewegung in Frankreich

Foto: Nicole Lambert (Nykaule)/flickr https://www.flickr.com/photos/nykaule/50349359771/

In der Debatte um die sozial-ökologische Transformation werden zumeist antizipierte zukünftige Ungerechtigkeiten besprochen. Bestehende, das heißt im aktuellen System existierende und unter Umständen sogar aus diesem System entstehende, Ungerechtigkeiten werden nur selten explizit diskutiert. Eine auf Vollständigkeit bedachte Betrachtung sozial-ökologischer Transformation muss sowohl die künftigen als auch die gegenwärtigen (Un-)Gerechtigkeitswirkungen in den Blick nehmen. [1]

recognition justice

Wörtlich übersetzt heißt recognition justice Anerkennungs-Gerechtigkeit. Gemeint ist damit die Anerkennung von Gerechtigkeits-Wirkungen, die aus der bestehenden sozialen Struktur und sozialen Prozessen entstehen. [2]

Das international viel diskutierte Konzept der Just Transition [2] ist ein Ansatz im Umgang mit der Frage, wie umfassende Transformationsprozesse gerecht gestaltet werden können, der sich um ein solch vollständiges Bild bemüht: Just Transition kann in Bezug auf die Zukunft sowohl ergebnisorientiert als Verteilungsgerechtigkeit, als auch im Sinne der Prozessgerechtigkeit während der Transformation verstanden werden. Mit dem Ansatz der recgonition justiced ist allerdings auch eine Analyse und Anerkennung bestehender Ungerechtigkeiten gefordert, sodass der Fokus auf besonders vulnerable Gruppen in der Gesellschaft gelegt wird.

Multiple Gründe für Gelbwesten-Proteste

Eine Analyse der Agora Energiewende zeigt für den Fall der Gelbwesten-Proteste, dass diese sich nicht alleine an einem erhöhten CO2-Preis entzündeten. Insbesondere die zuvor umgesetzten Reformen, die sich vor allem auf die 20 % der einkommensschwächsten Haushalte und Rentner*innen negativ auswirkten, bereiteten einen Nährboden. Die französische Ausgestaltung des CO2-Preises als Klimabeitrag ohne Rückverteilungskomponente belastete diese Bevölkerungsgruppen überproportional und wurde aus Sicht der Protestierenden ohne ihre Beteiligung vom „Präsident der Reichen“ eingeführt. [3] Letzteres korrespondiert mit einem wesentlichen Element populistischer Bewegungen, die ihr Selbstverständnis weniger über spezifische, fachpolitische Anliegen, sondern vor allem über eine Abgrenzung zu (wahrgenommenen) Eliten und deren fahrlässigen Entscheidungen generieren. [4]

Die Gelbwesten-Bewegung ist ein Beispiel für die Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs im Kontext großer Transformationsvorhaben, das in Bezug auf die Akzeptanz des anstehenden, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels in NRW lehrreich sein kann. Das Anerkennen bestehender Ungerechtigkeiten und eine konsequente Verfahrensgerechtigkeit durch Beteiligung und Transparenz, im Sinne der just transition, könnten also der Schlüssel sein, um populistischen Tendenzen bei der Gestaltung des gerechten Strukturwandels weniger Angriffsfläche zu bieten.

Michaela Roelfes, Senior Researcherin im 
Forschungsbereich Stadtwandel des Wuppertal Instituts

Dr. Lukas Hermwille, Senior Researcher im Forschungsbereich
Internationale Klimapolitik des Wuppertal Instituts

Fußnoten

  1. Kanger, Laur und Benjamin K. Sovacool (2022): “Towards a multi-scalar and multi-horizontal framework of energy injustice: A whole systems analysis of Estonian energy transition”, in: Political Geography, Vol. 93, 102544, online unter: https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2021.102544 (zuletzt aufgerufen am 13.01.2022).
  2. Wang, Xinxin & Kevin Lo (2021): „Just Transition: A conceptual review“, in: Energy Research & Social Sciences, Vol. 82, 102291, online unter: https://doi.org/10.1016/j.erss.2021.102291 (zuletzt aufgerufen am 10.11.2021)
  3. Agora Energiewende (2019):Die Gelbwesten-Proteste: Eine (Fehler-)Analyse der französischen CO2-Preispolitik, online unter: https://static.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2018/CO2-Steuer_FR-DE_Paper/Agora-Energiewende_Paper_CO2_ Steuer_FR-DE.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  4. Huber, Robert A. et al. (2021): “Is populism a challenge to European energy and climate policy? Empirical evidence across varieties of populism“, in: Journal of European Public Policy, Vol. 28, S. 998-1017, online unter: https://doi.org/10.1080/13501763.2021.1918214 (zuletzt aufgerufen am: 10.11.2021).