Mehr Suffizienz wagen – so gelingt Klimaschutz für alle

Mehr Suffizienz wagen – so gelingt Klimaschutz für alle

Suffizienz ist die Strategie des rechten Maßes für Konsum und Produktion. Technische Klimaschutzmaßnahmen allein verfehlen ohne sie ihr Ziel. Suffizienz stellt für das Industrieland Nordrhein-Westfalen eine besondere Chance und Herausforderung dar.

Menschen sitzen auf einer großen Wiese in einem Park und schauen in den Sonnenuntergang.

Foto von Leah Kelley auf Pexels

Suffizienz hat das Potenzial, die Energiewende und die Transformation der Wirtschaft zu ermöglichen. Nach aktuellen Suffizienzszenarien kann durch eine entsprechende, politische Rahmengebung die Energienachfrage bis zur Mitte des Jahrhunderts um 14 bis 25 Prozent reduzieren. Das ist auch dringend nötig, denn der Weltklimarat IPCC [1] und der deutsche Expertenrat für Klimafragen (EKR) [2] sind sich einig: Ohne Suffizienz bzw. “Aktivitätsreduktion” ist die Einhaltung der Klimaziele gefährdet. Suffizienz ist außerdem möglich, denn im Jahr 2022 haben Verbraucher*innen, Unternehmen und die öffentliche Hand ohne ad hoc fast ein Viertel des Gasverbrauchs eingespart. [3] Es bedarf aber keiner weiteren, geo- und friedenspolitischen Katastrophen, um suffizientes Verhalten nicht nur zu ermöglichen, sondern sogar zur attraktivsten Lösung zu machen: Kopenhagen zeigt seit langem, dass eine herausragende Infrastruktur den Umstieg auf das Fahrrad zur sinnvollsten Lösung macht. Auch der aktuelle Koalitionsvertrag der Bundesregierung [4] greift erste, kleinteilige Suffizienzmaßnahmen auf (z. B. im Kontext von Online-Handel und Werbung). Suffizienz sollte dabei auf keinen Fall missverstanden werden – es geht nicht darum, Bedürfnisse zu beschneiden und das Leben komplizierter zu machen, als es heute schon ist. Es geht im Gegenteil darum, einfache und (energie-)sparsame Formen zu finden, wie alltägliche Bedürfnisse wie Mobilität und Wohnen befriedigt werden können. Einschränkungen von Konsumhandlungen sollten ohnehin erst dann erfolgen, wenn attraktive Alternativen verfügbar sind.

Suffizienz

liegt zwischen Exzess und der Befriedigung von Grundbedürfnissen

Am Wuppertal Institut definieren wir Suffizienz als Strategie zur Reduktion von Konsum- und Produktionsniveaus durch die Veränderungen sozialer Praktiken. Ziel ist, einerseits durch Vermeiden von Exzess und Überfluss ökologische Grenzen einzuhalten und andererseits allen Menschen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu ermöglichen 

Suffizienz ist mehr als individuelles Verhalten: die Politik setzt den Rahmen

Ärmere Menschen leben häufig an vielbefahrenen Straßen [5] und in überbelegten Wohnungen [6]. Daher zählen sie zu den Profiteur*innen von Suffizienzpolitik, wenn diese gerecht gemacht wird. Sie profitieren, wenn sich durch suffizientes Mobilitätsverhalten das motorisierte Verkehrsaufkommen verringert und durch kluge Wohnraumpolitik [7] der Wohnraum bedürfnisorientiert verteilt wird.

In politischen Prozessen gibt es für Suffizienz unzählige Stellschrauben, darunter zum Beispiel:

  • Große Wohnungsunternehmen in wachsenden Städten NRWs könnten eine Mindestbelegungsquote im Bestand einführen, wie es sie z. B. in Zürich gibt. [8]
  • Eine Mehrwertsteuersenkung auf pflanzliche Grundnahrungsmittel, kann die Portemonnaies der Bürger*innen entlasten.
  • Werbeverbote für klimaschädliche Produkte wie SUV und Kreuzfahrten können den Energieverbrauch und Ressourcenbedarf ebenfalls senken.

Nordrhein-Westfalen kann Vorreiter der Suffizienzstrategie werden

Suffizienz als politische Strategie ist in Nordrhein-Westfalen aufgrund der vergleichsweise hohen Siedlungsdichte und des Energieverbrauches besonders wichtig, um Flächen zu sparen und die Transformation zu 100 % erneuerbaren Energien zu schaffen. Die Gesellschaft in NRW kann noch viel tun, um weniger Energie zu verbrauchen – und überhaupt zu benötigen.

Zukunftsimpuls:

Suffizienzpolitik als Booster zum Erreichen der Klimaschutzziele

Der aktuelle Zukunftsimpuls der Wuppertal Instituts zeigt, dass Suffizienzstrategien und -politik den Wandel bringen können – bei Konsum, Gebäuden, Verkehr, Kreislaufwirtschaft und Energie. Sie können ihn auf der Institutswebseite herunterladen.

Aber wie kann ein sinkender Konsum mit wirtschaftlichem Erfolg kombiniert werden? In NRW gibt es dafür vielversprechende Ansatzpunkte. Vielleicht wird NRW in Zukunft “Export-Weltmeister” im Umbauen, Sanieren, Reparieren, und urbanen Produzieren? Die Kreislaufwirtschaft kann ein Einstiegspunkt in die Suffizienzdiskussion sein, denn fünf der neun Circular Economy-Strategien[9], der sogenannten R-Strategien, sind praktisch Suffizienz bzw. haben Suffizienzanteile – „Refuse“, „Rethink“, „Reduce“, „Reuse“ und „Repair”. Die räumliche Nähe von Schlüsselakteuren einer Kreislaufwirtschaft ist definitiv eine der Stärken von NRW. Die Etablierung einer erfolgreichen Kreislaufwirtschaft bietet das Potenzial, Suffizienz aus der “Verzichtsschublade” herauszuholen. Ein weiteres Leitbild für eine suffizienzkompatible Wirtschafts- und Produktionsweise wurde im Bergischen Städtedreieck unter dem Stichwort „Neue Urbane Produktion“ [10] entwickelt. Neue Urbane Produktion beschreibt gemeinwohlorientierte Produktionsstätten, welche Güter nutzer*innen-nah herstellen und/oder bearbeiten sowie überwiegend lokale Ressourcen und/oder Wertschöpfungsketten nutzen.

Dr. Benjamin Best, Senior Researcher
im Forschungsbereich Strukturwandel und Innovation

Fußnoten

  1. IPPC (2022): „Climate Change 2022, Mitigation of Climate Change, Summary for Policymakers“, online unter: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/downloads/report/IPCC_AR6_WGIII_SPM.pdf.
  2. Expertenrat für Klimafragen (2023): „Stellungnahme zum Entwurf des Klimaschutzprogramms 2023“, online unter: https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2023/09/ERK2023_Stellungnahme-zum-Entwurf-des-Klimaschutzprogramms-2023.pdf.
  3. Ruhnau, O., Stiewe, C., Muessel, J. et al. (2023): „Natural gas savings in Germany during the 2022 energy crisis“, online unter: https://www.nature.com/articles/s41560-023-01260-5.
  4. SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, FDP (2021): „Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP“, online unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800.
  5. Umweltbundesamt (2023): „Umweltgerechtigkeit – Umwelt, Gesundheit und soziale Lage“, online unter: https://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/umwelteinfluesse-auf-den-menschen/umweltgerechtigkeit-umwelt-gesundheit-soziale-lage#umweltgerechtigkeit-umwelt-gesundheit-und-soziale-lage.
  6. Eurostat (2023): „Overcrowding rate by age, sex and poverty status – total population – EU-SILC survey“, online unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ILC_LVHO05A__custom_8530615/default/table?lang=en.
  7. Bierwirth A., Buschka, M. (2023): „Wohnraumsuffizienz ermöglichen“, online unter: https://nachhaltigkeitsradar.nrw/wohnraumsuffizienz-ermoeglichen.
  8. Heintze, D. (2023): „Niemand redete von Umzugszwang…“, online unter: https://chrismon.evangelisch.de/kolumnen/wohnlage/wieso-die-pflicht-zum-wohnungstausch-in-zuerich-gerecht-ist.
  9. Deutsches Institut für Normung (o. A.): „Modell der R-Strategien“, online unter: https://www.din.de/de/forschung-und-innovation/themen/circular-economy/normenrecherche/modell-der-r-strategien.
  10. „Neue Urbane Produktion“, online unter: https://www.din.de/de/forschung-und-innovation/themen/circular-economy/normenrecherche/modell-der-r-strategien.
Keep it simple! – Frugale Innovationen

Keep it simple! – Frugale Innovationen

Frugale Innovationen bezeichnen Entwicklungen, die anwendungs­orientiert, kostengünstig, leicht zu bedienen, zu reparieren und ressourcen­schonend sind. Sie sind unerlässlich für einen zukunfts­fähigen Industrie­standort NRW.

Während die führenden Unternehmen der Welt sich zunehmend auf Luxusprodukte und überladene Innovationen für High-Income Länder konzentrieren, fehlen Lösungen, die erschwinglich sind und genau das tun, was Nutzer*innen brauchen.[1] Genau solche Innovationen sind aber essentiell für eine nachhaltige Entwicklung, die ökologische, soziale und ökonomische Ziele gleichermaßen befriedigen kann. Man nennt diese Innovationen “frugal” und diskutiert sie nicht zuletzt im Kontext der Circular Economy.

Frugale Innovation für Nordrhein-Westfalen

Wie kann ein nachhaltiger sowie ressourcen- und energieschonender Umgang mit Sachgütern in der Zukunft gewährleistet werden? Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft für welche Sachgüter leisten?[2] Hier ist insbesondere das produzierende Gewerbe gefragt, das NRW stark prägt. Als Teil der Circular Economy können frugale Innovationen Ressourceneinsparungen verstärken und gleichzeitig die Erschließung neuer Märkte unterstützen. Spannend ist vor allem aber, dass das Nachdenken über frugale Innovationen eine Reflektion auslöst: Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft leisten?

“FRUGAL” ist auch ein Akronym

F = functional, R = robust, U = user friendly,
G = growing, A = affordable, L = local

Eigentlich bedeutet das Wort „frugal“ einfach, schlicht oder karg.
Doch im Kontext der „Frugalen Innovation“ erhält es eine zusätzliche Bedeutung.
Als Akronym beschreibt es die Kernprinzipien der Frugalen Innovation.

In NRW bekommt der Ansatz der Frugalen Innovation zunehmend Aufmerksamkeit. Das Bundesland verfügt wie kaum eine Industrieregion weltweit über die notwendigen Potenziale, durch zirkuläres Wirtschaften sowohl zum Klima- und Ressourcenschutz als auch zum Erhalt seiner wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit beizutragen.[3] In unterschiedlichen Veranstaltungs- und Vernetzungsangeboten (z. B. der Kongress „zirkulär.frugal.innovativ“ und die Initiative „Open Innovation City“) entstehen im Moment in Zusammen-arbeit von Wissenschaft, Wirtschaftsförderern und Unternehmen Ansätze, um das Thema als richtungsweisend auf der regionalen Agenda zu etablieren und Unternehmen zu motivieren, neue Formen der Innovation und des nachhaltigen Wirtschaftens zu erproben.

Für die Realisierung braucht es neue Wege und Formen der Zusammenarbeit sowie Allianzen von Wissen-schaft & Forschung, regionaler Wirtschaft und weiteren Akteur*innen. Dadurch kann ein inter-disziplinärer Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gefördert, der Wissenstransfer ermöglicht und es können gemeinsame Kompetenzfelder aufgebaut werden, um eine zukunftsgerechte Transformation der Regionen zu fördern.

Eva-Maria Goertz, Junior Researcherin
im Forschungsbereich Stoffkreisläufe

Dr. Holger Berg, stellv. Abteilungsleiter und Co-Leiter
des Forschungsbereichs Digitale Transformation

Fußnoten

  1. Krohn, Malte (2022): The Crucial Role of Mindsets in Innovation Efforts. Opening the Black Box in the Context of Frugal Innovation. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39970-2 . Springer Gabler Wiesbaden.
  2. Wohlfart, Liza/ Bünger, Mark/ Lang-Koetz, Claus/ Wagner, Frank (2016): Corporate and Grassroot Frugal Innovation: A Comparison of Top-Down and Bottom-Up Strategies. URL: https://www.engineering-produktion.iao.fraunhofer.de/content/dam/iao/tim/Dokumente/Wohlfart_et_al_TIMReview_April2016.pdf . In: Technology Innovation Management Review, April 2016, Volume 6, Issue 4. (zuletzt abgerufen am 22.02.2023).
  3. Wuppertal Institut (2022): NRW 2030: Von der fossilen Vergangenheit zur zirkulären Zukunft. URL: https://wupperinst.org/fa/redaktion/downloads/projects/NRW2030_Zirkulaere_Zukunft.pdf  (zuletzt abgerufen am 27.01.2023).