Extreme Hitze: Eine Herausforderung für Mensch und System

Extreme Hitze: Eine Herausforderung für Mensch und System

Mit einer Zunahme an Extremwetterereignissen steigt die Frequenz von Hitzewellen sowie ihre Intensität und verschärft die Auswirkungen auf die Bevölkerung und Gesundheit.

Weiblich gelesene Person gibt Kind eine Flasche Wasser

Foto von Ketut Subiyanto auf Pexels

Im vergangenen Jahr 2022 hat es in Nordrhein-Westfalen im Gebietsmittel 17,7 Hitzetage gegeben. [1] Ein Hitzetag wird definiert als “[…] ein Tag, an dem das Maximum der Lufttemperatur ≥ 30°C beträgt”. [2] Selbst optimistische Prognosen, die eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5-Grad erwarten, deuten auf eine Zunahme von Hitzetagen hin. Heute leben bereits 40 % der Menschen in NRW in thermisch ungünstigen oder sehr ungünstigen Situationen. Bis 2050 könnte sich die Zahl auf 80 % erhöhen. [3] Ein besonders Hitze-bedingtes Gesundheitsrisiko besteht vor allem für Kinder, alte Menschen, sozial isolierte Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen.

8.173

hitzebezogene Todesfälle in Deutschland im Sommer 2022

Mit 8.173 hat Deutschland in Europa die drittmeisten hitzebezogenen Todesopfer im Sommer 2022 zu beklagen. [5] Europaweit starben über 60.000 Menschen aufgrund von Hitze. Dabei sorgt die Hitze häufig bei vulnerablen Gruppen für eine zusätzliche körperliche Belastung. 

Hitze als Herausforderung für die Gesundheit

Extreme Hitze kann eine Reihe von gesundheitlichen Beschwerden hervorrufen. Denn um den Körper abzukühlen, muss das Herz einen erhöhten Aufwand betreiben und durch eine erhöhte Blutzirkulation kann es zu einem geringen Blutdruck kommen. Hitzewellen können zu Herz-Kreislauferkrankungen, Einschränkung von kognitiven Funktionen und von Organen führen, psychische Belastungen nach sich ziehen, einen Kreislaufkollaps verursachen und letztlich im Falle eines Hitzschlags bis zum Tode führen. Zusätzlich wird in Folge von Hitzewellen die Luftverschmutzung (bspw. Ozon- und Pollenbelastung) verstärkt, was eine erhöhte Belastung für die menschliche Gesundheit bedeuten kann. Entsprechend kann es während Hitzewellen zu einer Vielzahl an akuten Versorgungs(not)fällen kommen, die das Gesundheitssystem zusätzlich stark belasten können. [4]

Maßnahmen sind unabdingbar: Überlastung verhindern, Menschen schützen

Zur Minderung der Risiken für die menschliche Gesundheit und zur Stärkung der Resilienz des Gesundheitssystems sind eine Reihe von Maßnahmen gefragt. Kommunale Hitzeaktionspläne, Aufklärungskampagnen und eine klimaangepasste städtische Planung (bspw.: klimaresiliente Gebäude, Grünflächen oder Trinkwasserbrunnen) sind wichtige Bausteine zur Verringerung von Risiken. Hierbei ist die Einbeziehung von Vertreter*innen des Gesundheitssektors relevant. [6] Neben der Stärkung der medizinischen Versorgung bedarf es gleichzeitig einer flächendeckenden Erfassung der Hitze-bedingten gesundheitlichen Auswirkungen. Wissen über temperatursensible Erkrankungen können den ambulanten und stationären Sektor bei Diagnosen unterstützen, während alltagsnahe Anpassungsstrategien und wissenschaftlich fundierte Weiterbildungskonzepte beispielsweise in Hausarztpraxen inmitten von Hitzewellen einen verbesserten Gesundheitsschutz gewährleisten können. [7] Mit präventiven Maßnahmen und dem Gewinnen von vertieftem Wissen über die Zusammenhänge von extremer Hitze und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper sowie vorhandene Vorerkrankungen können das Gesundheitssystem und die Menschen in NRW besser vor den Folgen des Klimawandels geschützt werden.

Tim Heßler, studentische Hilfskraft
im Forschungsbereich Stadtwandel

Dieser Beitrag für den Nachhaltigkeitsradar wurde auf Basis der kürzlich publizierten “Explorationsstudie Klimawandel und Gesundheit” des Wuppertal Instituts geschrieben, die im Auftrag der BARMER erstellt wurde. Diese gibt einen breiten Überblick über mögliche gesundheitliche Folgen des Klimawandels. Die Autor*innen Markus Kühlert und Martina Schmitt waren in der Rolle der Qualitätssicherung an diesem Beitrag beteiligt.

Fußnoten

  1. Deutscher Wetterdienst, (2023): „Klimastatusbericht Deutschland Jahr 2022“, online unter: https://www.dwd.de/DE/leistungen/klimastatusbericht/publikationen/ksb_2022.pdf?__blob=publicationFile&v=5.
  2. Deutscher Wetterdienst, (o. D.): „Heißer Tag. Wetter- und Klimalexikon“, online unter: https://www.dwd.de/DE/service/lexikon/Functions/glossar.html?lv3=101162&lv2=101094 (zuletzt aufgerufen am 06.11.2023).
  3. Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen, (2028): „Klimaanalyse NRW. LANUV-Fachbericht 86“, online unter: https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuvpubl/3_fachberichte/Fachbericht_86-Klimaanalyse_web-gesichert.pdf.
  4. Schmitt, M., Kühlert, M., Baedecker, C., (2023): „Explorationsstudie Klimawandel und Gesundheit: Studie im Auftag der BARMER“, online unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/8335.
  5. Ballester, J., Quijal-Zamorano, M., Méndez Turrubiates, R.F. et al.,  (2023): „Heat-related mortality in Europe during the summer of 2022“, online unter: https://doi.org/10.1038/s41591-023-02419-z.
  6. Matthies-Wiesler, F. et al., (2021): „he Lancet Countdown for Health and Climate Change – Policy Brief für Deutschland 2021“, online unter: ttps://www.klimawandel-gesundheit.de/wpcontent/uploads/2021/10/20211020_Lancet-Countdown-Policy-Germany2021_Document_v2.pdf.
  7. Schmitt, M., Kühlert, M., Baedecker, C., (2023): “Explorationsstudie Klimawandel und Gesundheit: Studie im Auftrag der BARMER”, onlune unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/8335.
Keep it simple! – Frugale Innovationen

Keep it simple! – Frugale Innovationen

Frugale Innovationen bezeichnen Entwicklungen, die anwendungs­orientiert, kostengünstig, leicht zu bedienen, zu reparieren und ressourcen­schonend sind. Sie sind unerlässlich für einen zukunfts­fähigen Industrie­standort NRW.

Während die führenden Unternehmen der Welt sich zunehmend auf Luxusprodukte und überladene Innovationen für High-Income Länder konzentrieren, fehlen Lösungen, die erschwinglich sind und genau das tun, was Nutzer*innen brauchen.[1] Genau solche Innovationen sind aber essentiell für eine nachhaltige Entwicklung, die ökologische, soziale und ökonomische Ziele gleichermaßen befriedigen kann. Man nennt diese Innovationen “frugal” und diskutiert sie nicht zuletzt im Kontext der Circular Economy.

Frugale Innovation für Nordrhein-Westfalen

Wie kann ein nachhaltiger sowie ressourcen- und energieschonender Umgang mit Sachgütern in der Zukunft gewährleistet werden? Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft für welche Sachgüter leisten?[2] Hier ist insbesondere das produzierende Gewerbe gefragt, das NRW stark prägt. Als Teil der Circular Economy können frugale Innovationen Ressourceneinsparungen verstärken und gleichzeitig die Erschließung neuer Märkte unterstützen. Spannend ist vor allem aber, dass das Nachdenken über frugale Innovationen eine Reflektion auslöst: Welche Schäden an Mensch und Umwelt wollen wir uns als Gesellschaft leisten?

“FRUGAL” ist auch ein Akronym

F = functional, R = robust, U = user friendly,
G = growing, A = affordable, L = local

Eigentlich bedeutet das Wort „frugal“ einfach, schlicht oder karg.
Doch im Kontext der „Frugalen Innovation“ erhält es eine zusätzliche Bedeutung.
Als Akronym beschreibt es die Kernprinzipien der Frugalen Innovation.

In NRW bekommt der Ansatz der Frugalen Innovation zunehmend Aufmerksamkeit. Das Bundesland verfügt wie kaum eine Industrieregion weltweit über die notwendigen Potenziale, durch zirkuläres Wirtschaften sowohl zum Klima- und Ressourcenschutz als auch zum Erhalt seiner wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit beizutragen.[3] In unterschiedlichen Veranstaltungs- und Vernetzungsangeboten (z. B. der Kongress „zirkulär.frugal.innovativ“ und die Initiative „Open Innovation City“) entstehen im Moment in Zusammen-arbeit von Wissenschaft, Wirtschaftsförderern und Unternehmen Ansätze, um das Thema als richtungsweisend auf der regionalen Agenda zu etablieren und Unternehmen zu motivieren, neue Formen der Innovation und des nachhaltigen Wirtschaftens zu erproben.

Für die Realisierung braucht es neue Wege und Formen der Zusammenarbeit sowie Allianzen von Wissen-schaft & Forschung, regionaler Wirtschaft und weiteren Akteur*innen. Dadurch kann ein inter-disziplinärer Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gefördert, der Wissenstransfer ermöglicht und es können gemeinsame Kompetenzfelder aufgebaut werden, um eine zukunftsgerechte Transformation der Regionen zu fördern.

Eva-Maria Goertz, Junior Researcherin
im Forschungsbereich Stoffkreisläufe

Dr. Holger Berg, stellv. Abteilungsleiter und Co-Leiter
des Forschungsbereichs Digitale Transformation

Fußnoten

  1. Krohn, Malte (2022): The Crucial Role of Mindsets in Innovation Efforts. Opening the Black Box in the Context of Frugal Innovation. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39970-2 . Springer Gabler Wiesbaden.
  2. Wohlfart, Liza/ Bünger, Mark/ Lang-Koetz, Claus/ Wagner, Frank (2016): Corporate and Grassroot Frugal Innovation: A Comparison of Top-Down and Bottom-Up Strategies. URL: https://www.engineering-produktion.iao.fraunhofer.de/content/dam/iao/tim/Dokumente/Wohlfart_et_al_TIMReview_April2016.pdf . In: Technology Innovation Management Review, April 2016, Volume 6, Issue 4. (zuletzt abgerufen am 22.02.2023).
  3. Wuppertal Institut (2022): NRW 2030: Von der fossilen Vergangenheit zur zirkulären Zukunft. URL: https://wupperinst.org/fa/redaktion/downloads/projects/NRW2030_Zirkulaere_Zukunft.pdf  (zuletzt abgerufen am 27.01.2023).

Der Industrieplan für den Europäischen Green Deal

Der Industrieplan für den Europäischen Green Deal

Ist der neue Industrieplan der Europäischen Union eine adäquate Antwort auf die Investitionspolitik der USA und Chinas? Was bedeuten die industriepolitischen Ziele der EU für NRW? Eine Einschätzung von Prof. Dr. Manfred Fischedick.

Im Herbst 2022 hat die US-Regierung mit der Verabschiedung des 370 Mrd. $ schweren Inflation Reduction Act (IRA) für große Aufregung gesorgt. Vornehmlich sollen damit Investitionen in grüne Zukunftstechnologien angereizt werden. Dabei ist die Inanspruchnahme von Vergünstigungen aus dem IRA daran geknüpft, dass die Produktion vor Ort stattfindet. Auch China hat mittlerweile angekündigt, rund 280 Mrd. $ in saubere Technologien investieren zu wollen. Gelingt es beiden Staaten, damit ein attraktives Investitionsklima zu gestalten, besteht die Gefahr der Abwanderung zentralerer Zukunftsindustrien aus Europa. 

Die Europäische Antwort

Mit dem am 01.02.2023 veröffentlichten Europäischen Industrieplan (Green Deal Industrial Plan) versucht die EU-Kommission eine Antwort auf die beiden Programme zu geben. Dabei steht, anders als in den USA, zwar keine protektionistische Grundhaltung im Vordergrund. Dennoch kann von einem bemerkenswerten Paradigmenwechsel in der bisher eher zurückhaltenden Europäischen Industriepolitik gesprochen werden. Die EU-Kommission zielt vor allem auf eine Beschleunigung in der Umsetzung ab und setzt dafür auf vier zentrale Säulen:

  • Die Festlegung von konkreten Produktionszielen für zentrale Zukunftstechnologien über ein Netto-Null-Industrie-Gesetz (Net Zero Industry Act) im Verbund mit einer Vereinfachung der regulatorischen Rahmenbedingungen zu deren Umsetzung.
  • Die Beschleunigung von Investitionen durch – zumindest temporär – weniger strenge Beihilferegelungen. Dadurch wird es den Mitgliedstaaten erleichtert, spezifische Förderprogramme aufzulegen (z. B. für Ansiedlung von Unternehmen).
  • Eine Qualifizierungsoffensive (European Year of Skills), um die Unternehmen durch ausreichend qualifizierte Fachkräfte in die Lage zu versetzen, Veränderungen auch umsetzen zu können.
  • Der Ausbau der globalen Kooperationsbeziehungen und Verankerung der grünen Transformation in Freihandelsabkommen sowie die Entwicklung eines Critical Raw Materials Club, der den fairen Zugang zu knappen Rohstoffen auf globaler Ebene sichern soll.

Damit setzt die EU Kommission wichtige Eckpunkte fest. Es erscheint aus heutiger Sicht aber noch unsicher, ob die Maßnahmen der EU mehr als ein wichtiges politisches Signal sind, zumal zunächst nicht vorgesehen ist „frisches“ Geld bereitzustellen, sondern insbesondere auf nicht ausgeschöpfte Mittel aus dem Corona Wiederaufbaufonds zurückgegriffen wird. Zudem sollen viele Detailregelungen erst im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.

NRW im Umsetzungswettbewerb

Als Industrie- und Technologieland ist NRW ganz besonders von der Konkurrenzsituation mit den beiden großen Absatzmärkten USA und China betroffen und muss sich überlegen, wie die nationalen und europäischen Maßnahmen seitens des Landes durch eine kluge Industrie- und Standortpolitik flankiert werden können. Im aktuellen Koalitionsvertrag ist die explizite Absicht der Landesregierung formuliert, die erste klimaneutrale Industrieregion Europas werden zu wollen Dieses Narrativ kann helfen Kräfte zu bündeln und fortschrittliche Unternehmen anzusiedeln ist aber kein Selbstgänger. Das Land ist daher gefordert, bei der Vernetzung der Akteure entlang der Wertschöpfungsketten sowie dem Aufbau essentieller Infrastrukturen für die Umsetzung der Transformation mitzuhelfen. Mit dem Zusammenschluss von Landesregierung, Industrie und Wissenschaft in der Initiative IN4Climate (Initiative für eine klimaneutrale energieintensive Industrie) sowie der Formulierung einer landesspezifischen Wasserstoffstrategie und einer Carbon Management Strategie setzt NRW hierfür wichtige Akzente.

Internationale Industriepolitik, Klimaschutz und Versorgungssicherheit.

Lesen Sie dazu auch eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. Manfred Fischedick, in der er den internationalen Umsetzungswettbewerb vor dem Hintergrund von Klimaschutznotwendigkeiten und Energieversorgungswettbewerb einordnet.

Flankierende Maßnahmen auf Bundeseben notwendig

Auch von der Bundesebene sind weitere flankierende Maßnahmen zu erwarten, um die eigene Position zu stärken. Bei der Festlegung der Instrumente steht in einem Exportland die Konformität mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) im Mittelpunkt. Einen direkten Protektionismus deutscher Hersteller wird es daher nicht geben. Indirekt können die Unternehmen des Landes aber profitieren, wenn z.B. Fördermittel oder die Möglichkeit, sich an Ausschreibungen zu beteiligen, an bestimmte Qualitätskriterien (z.B. Nachhaltigkeits- bzw. Klima- oder Umweltvorgaben, Ausbildungsquote) geknüpft werden, die praktisch nur durch vor Ort angesiedelte Unternehmen erfüllt werden können. Entstehen würde hierdurch eine Win-Win-Situation, da neben der Sicherstellung, dass die Wertschöpfung im Land bleibt, höhere Nachhaltigkeitsziele verankert werden.

Unabhängig davon stellt sich im Moment sicher die Frage, inwieweit der aktuelle Umsetzungswettbewerb zu einer Beschleunigung des globalen Transformationsprozesses führen kann, d.h. quasi als Booster wirkt. Oder, ob eine Bündelung der Kräfte (z.B. im Rahmen des gemeinsamen Aufbaus einer globalen Wasserstoffinfrastruktur) deutlich wirkmächtiger wäre. Grundsätzlich ist zunächst aber einmal positiv zu werten, dass die USA sich mit dem IRA nun auch auf der nationalen Ebene gegenüber der notwendigen Ausbaudynamik von erneuerbaren Energien öffnen und China seine ambitionierten Ausbauziele weiter fortsetzt. Die hierdurch ausgelösten globalen Investitionen können zu einer Innovationsdynamik führen und in der Konsequenz zu technologischen Verbesserungen und signifikanten Kostendegressionen, von denen alle (auch die Länder des globalen Südens) profitieren.

Prof. Dr. Manfred Fischedick

Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer

Kosten der Umsetzungslücken beim Klimaschutz

Kosten der Umsetzungslücken beim Klimaschutz

Die Kosten-Nutzenrechnung von Klimaschutz ist wissenschaftlich nicht trivial, denn sowohl die Berechnung der monetären Kosten von Klimaschutz, als auch der globalen Erwärmung und ihrer Folgen unterliegen hohen Unsicherheiten.

730 Milliarden Euro

Schäden durch den Klimawandel

erwartet beispielsweise Deloitte in den nächsten 50 Jahren bei ineffektiver Klimapolitik für Deutschland.

Eine aktuelle Studie [1] geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Kosten von CO2- Emissionen („social costs of CO2“ = SCCO2) aufgrund vereinfachter und unvollständiger Annahmen in bisher verwendeten Modellen unterschätzt wurden. Es sind insbesondere unvorhersehbare Extrem-wetterereignisse und das Auftreten wissenschaftlich noch nicht valide greifbarer, ökonomischer Rückkopplungsschleifen, die den Wissenschaftler*innen Sorgen bereiten. Die Klima-forschung weiß schon lange, dass die direkten Folgen der globalen Erwärmung – und damit auch ihre direkten gesellschaftlichen Kosten – im Globalen Süden wesentlich schwerwiegender sein werden.[2] Der Umfang und die geografische Verteilung der indirekten sozialen und ökonomischen Kosten, wie zum Beispiel die gesundheitlichen Auswirkungen von Hitzewellen und die oben erwähnten Rückkoppelungsschleifen in der Wirtschaft, ist dagegen für den Globalen Norden und damit auch für das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit hoher Unsicherheit verbunden.

Transformation vs. Disruption

In einem eindrucksvollen Vergleich zeigt das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) am Beispiel der Covid-19 Pandemie, welche Kosten maximal disruptive Ereignisse – wie sie auch durch das Erreichen von Kipppunkten beim Klimawandel entstehen würden – im Vergleich zu den Kosten gezielter Transformationsinvestitionen haben können: „Den absoluten Einsparungen von 71 Millionen Tonnen CO2 steht ein Rückgang des BIP von 117 Milliarden Euro gegenüber“.[3] Daraus werden CO2-Vermeidungskosten von rund 1.645 Euro pro Tonne für den Lockdown abgeleitet. Demgegenüber stünden wesentlich geringere CO2-Vermeidungskosten von unter 100 Euro pro Tonne für viele der bereits verfügbaren Klimaschutztechnologien.

Nicht nur Kosten, sondern Chancen

Investitionen in den Klimaschutz sollten neben der Schadensvermeidung auch vor dem Hintergrund ihrer mittel- und langfristigen Effekte auf den Wohlstand und das Bruttoinlandsprodukt bewertet werden. So manifestieren sich die weltweit zugesagten Verschärfungen der Klimaschutzziele, im Rahmen der ver- gangenen UN-Klimakonferenz („COP26“), in einer tendenziell positiven Bewertung der zukünftigen Absatzchancen klima- freundlicher Produkte und Dienstleistungen durch deutsche Unternehmen. Eine Studie von Deloitte aus dem Jahr 2021 kommt sogar zu dem Schluss, dass Deutschland „eine der ersten Regionen in Europa sein“ wird, die von den wirtschaftlichen Vorteilen ambitionierter Klimaschutzmaßnahmen profitieren kann, wenn es sich „frühzeitig dafür entschieden hat“.[4]

Michaela Roelfes, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel

Dr. Sascha Samadi, Senior Researcher
im Forschungsbereich Sektoren und Technologien

  1. Kikstra, Jarmo S. et al. (2021): „Social costs of carbon dioxide under climate-economy feedbacks and temperature variability”, in: Environmental Research Letters, Vol. 16, online unter: https://doi.org/10.1088/1748-9326/ac1d0b (zuletzt aufgerufen am 09.11.2021).
  2. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, 2021): Annex I: Global to Regional Atlas. Climate Change 2022. Impacts, Adaptation and Vulnerability, online unter: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/downloads/report/IPCC_AR6_WGII_Annex-I.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  3. Fischer, Andreas und Sarah Fluchs (2021): „Investitionen in den Klimaschutz: Die Kosten des Wartens“, IW-Kurzbericht 46/2021, S. 3, online unter: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2021/IW-Kurzbericht_2021-Kosten-des-Wartens.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  4. Deloitte (2021): Der Wendepunkt – Wie Deutschland vom Kampf gegen den Klimawandel profitieren kann, online unter: https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/global/Documents/gx-tp-executive-summary-germany.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.01.2022).

Just Transition als Akzeptanz­strategie

Just Transition als Akzeptanz­strategie

Ambitionierte Maßnahmen zum Klimaschutz werden in Europa spätestens seit den Protesten der sogenannten Gelbwesten in Frankreich 2018/2019 mit einem erhöhten Risiko für das Erstarken von (rechts-)populistischen Parteien und einer Sorge um die demokratische Stabilität assoziiert. Im Kern dieser wahrgenommenen Gefahr liegt eine als ungerecht empfundene Verteilung der Kosten und Nutzen anstehender Transformationen.

Foto eines Protest der Gelbwestenbewegung in Frankreich

Foto: Nicole Lambert (Nykaule)/flickr https://www.flickr.com/photos/nykaule/50349359771/

In der Debatte um die sozial-ökologische Transformation werden zumeist antizipierte zukünftige Ungerechtigkeiten besprochen. Bestehende, das heißt im aktuellen System existierende und unter Umständen sogar aus diesem System entstehende, Ungerechtigkeiten werden nur selten explizit diskutiert. Eine auf Vollständigkeit bedachte Betrachtung sozial-ökologischer Transformation muss sowohl die künftigen als auch die gegenwärtigen (Un-)Gerechtigkeitswirkungen in den Blick nehmen. [1]

recognition justice

Wörtlich übersetzt heißt recognition justice Anerkennungs-Gerechtigkeit. Gemeint ist damit die Anerkennung von Gerechtigkeits-Wirkungen, die aus der bestehenden sozialen Struktur und sozialen Prozessen entstehen. [2]

Das international viel diskutierte Konzept der Just Transition [2] ist ein Ansatz im Umgang mit der Frage, wie umfassende Transformationsprozesse gerecht gestaltet werden können, der sich um ein solch vollständiges Bild bemüht: Just Transition kann in Bezug auf die Zukunft sowohl ergebnisorientiert als Verteilungsgerechtigkeit, als auch im Sinne der Prozessgerechtigkeit während der Transformation verstanden werden. Mit dem Ansatz der recgonition justiced ist allerdings auch eine Analyse und Anerkennung bestehender Ungerechtigkeiten gefordert, sodass der Fokus auf besonders vulnerable Gruppen in der Gesellschaft gelegt wird.

Multiple Gründe für Gelbwesten-Proteste

Eine Analyse der Agora Energiewende zeigt für den Fall der Gelbwesten-Proteste, dass diese sich nicht alleine an einem erhöhten CO2-Preis entzündeten. Insbesondere die zuvor umgesetzten Reformen, die sich vor allem auf die 20 % der einkommensschwächsten Haushalte und Rentner*innen negativ auswirkten, bereiteten einen Nährboden. Die französische Ausgestaltung des CO2-Preises als Klimabeitrag ohne Rückverteilungskomponente belastete diese Bevölkerungsgruppen überproportional und wurde aus Sicht der Protestierenden ohne ihre Beteiligung vom „Präsident der Reichen“ eingeführt. [3] Letzteres korrespondiert mit einem wesentlichen Element populistischer Bewegungen, die ihr Selbstverständnis weniger über spezifische, fachpolitische Anliegen, sondern vor allem über eine Abgrenzung zu (wahrgenommenen) Eliten und deren fahrlässigen Entscheidungen generieren. [4]

Die Gelbwesten-Bewegung ist ein Beispiel für die Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs im Kontext großer Transformationsvorhaben, das in Bezug auf die Akzeptanz des anstehenden, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels in NRW lehrreich sein kann. Das Anerkennen bestehender Ungerechtigkeiten und eine konsequente Verfahrensgerechtigkeit durch Beteiligung und Transparenz, im Sinne der just transition, könnten also der Schlüssel sein, um populistischen Tendenzen bei der Gestaltung des gerechten Strukturwandels weniger Angriffsfläche zu bieten.

Michaela Roelfes, Senior Researcherin im 
Forschungsbereich Stadtwandel des Wuppertal Instituts

Dr. Lukas Hermwille, Senior Researcher im Forschungsbereich
Internationale Klimapolitik des Wuppertal Instituts

Fußnoten

  1. Kanger, Laur und Benjamin K. Sovacool (2022): “Towards a multi-scalar and multi-horizontal framework of energy injustice: A whole systems analysis of Estonian energy transition”, in: Political Geography, Vol. 93, 102544, online unter: https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2021.102544 (zuletzt aufgerufen am 13.01.2022).
  2. Wang, Xinxin & Kevin Lo (2021): „Just Transition: A conceptual review“, in: Energy Research & Social Sciences, Vol. 82, 102291, online unter: https://doi.org/10.1016/j.erss.2021.102291 (zuletzt aufgerufen am 10.11.2021)
  3. Agora Energiewende (2019):Die Gelbwesten-Proteste: Eine (Fehler-)Analyse der französischen CO2-Preispolitik, online unter: https://static.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2018/CO2-Steuer_FR-DE_Paper/Agora-Energiewende_Paper_CO2_ Steuer_FR-DE.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  4. Huber, Robert A. et al. (2021): “Is populism a challenge to European energy and climate policy? Empirical evidence across varieties of populism“, in: Journal of European Public Policy, Vol. 28, S. 998-1017, online unter: https://doi.org/10.1080/13501763.2021.1918214 (zuletzt aufgerufen am: 10.11.2021).