Zeitenwende einer alternden Demokratie – ein Denkanstoß
Die demografische Entwicklung europäischer Gesellschaften bedeutet für heute und die Zukunft, dass immer mehr ältere Menschen Politik gestalten, von deren Auswirkungen vor allem jüngere Menschen länger betroffen sein werden. Braucht die repräsentative Demokratie eine neue Stimmgewichtung?
„Der Jugend gehört die Zukunft, den Alten die Vergangenheit und dem Weisen der Augenblick“ schrieb der deutsche Schriftsteller Stephan Sarek im Jahr 1957. Der große Anteil an jungen Menschen, die sich in der Klima- und Umweltgerechtigkeitsbewegung engagieren, sowie unterschiedliche Jugendbefragungen zeigen deutlich: Die eigene Zukunft beschäftigt die jungen Menschen sehr.[1] Und die Zukunft bereitet den jungen Menschen zunehmend Sorge. Laut einer aktuellen Jugendstudie der TUI-Stiftung aus dem Jahr 2023 nehmen über die Hälfte der 7.085 befragten Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 26 Jahren an, dass es ihnen schlechter gehen wird, als noch ihren Eltern.[2] Gleichzeitig fanden Wissenschaftler*innen jüngst heraus, dass die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen nicht mit dem gesamtwirtschaftlichen monetären Wohlstand einer Gesellschaft steigt. Sogar das Gegenteil ist der Fall.[3] Dies spiegelt sich in den wahlentscheidenden Themen:
Während die Jüngeren vor allem Umwelt, Klima, soziale Sicherheit priorisieren, sind es bei der Altersgruppe über 70 Jahre vor allem Wirtschaft, Arbeit und soziale Sicherheit.[4]
Wer trifft Entscheidungen und wer lebt mit ihren Folgen?
Die Bevölkerung altert, das trifft auf die EU, Deutschland und NRW gleichermaßen zu. Während Menschen immer älter werden und länger gesund und fit bleiben, wird die Anzahl der Kinder und Jugendlichen sowie der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) zurück gehen.[5] Mit dieser gesellschaftlichen Alterung steigt in einer repräsentativen Demokratie das politische Gewicht der Älteren. Verstärkend kommt hinzu, dass die Wahlbeteiligung gerade in der Gruppe der über-65-Jährigen besonders hoch ist.[6] Das bedeutet letztlich, dass immer mehr ältere Menschen Politik gestalten, von deren Auswirkungen vor allem die jüngeren Menschen betroffen sein werden.
Ein Drittel der EU-Bevölkerung
könnte im Jahr 2100 über 65 Jahre alt sein.
2022 waren knapp 20 % der EU-Bevölkerung über 65 Jahre alt, 1950 lag dieser Anteil noch bei 8 % und 1990 bei 12,7 %. Die demografischen Entwicklungen der 27 EU-Mitgliedsstaaten zeigen also deutlich eine Alterung der Gesellschaft.[7]Auch in NRW wird sich dieser Trend fortsetzen: Im Jahr 2050 könnte das durchschnittliche Alter der Bevölkerung bei 46,2 Jahren liegen (2021: 44,3 Jahre, 2011: 43,6 Jahre[8])
Intragenerationale Gerechtigkeit ist ein entscheidendes Prinzip
In der Demokratie gilt die Regel: Wer vom politischen Handeln betroffen ist, soll in die politischen Entscheidungen einbezogen werden.[9] Wenn die Älteren die politische Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflussen und diejenigen, die es heute und vor allem auch in ferner Zukunft betrifft, kaum Einfluss haben, kann man fragen: Ist es gerecht, wenn die jüngere Generation an Wähler*innen mit den langfristigen Folgen der Entscheidungen von heute leben müssen, die überwiegend von der älteren Wahlgeneration getroffen werden?
#MitmischenNRW
= echte Jugendbeteiligung, die gesehen, gehört und
von Entscheidungsträger:innen ernst genommen wird.
Im Rahmen eines Projekts von Germanwatch und Landesjungendring haben Bürger*innen NRWs zwischen 16 und 26 Jahren “Jugendforderungen zur Überarbeitung der NRW-Nachhaltigkeitsstrategie” ausgearbeitet und zur 9. NRW-Nachhaltigkeitstagung am 11.09.2023 an die Landesregierung NRW übergeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 24. März 2021 mit seinem Klimabeschluss neue Maßstäbe gesetzt: Klimaneutralität bekommt Verfassungsrang und rechtzeitiger Klimaschutz ist Grundrechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht betont, einer Generation darf nicht zugestanden werden, unter vergleichsweiser milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit den folgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Ließe sich dieses Prinzip in unserem politischen System stärker verankern? Bräuchte eine alternde und schrumpfende Gesellschaft, die heute im Schnitt drei Erden verbraucht [10], ein Stimmgewichtungsschema, welches diese sich verändernden Relationen mit bedenkt? Ein erster Schritt wäre sicherlich auch in NRW, wie im Koalitionsvertrag (2022-2027) vorgesehen, das Wahlalter bei Landtagswahlen von 18 Jahren auf 16 zu senken. Das könnte zudem die in NRW seit Jahren zu beobachtende schrumpfende Wahlbeteiligung von zuletzt 55,5% [11]wieder erhöhen, wenn es die Politik zudem schafft, die Themen junger Menschen zu adressieren.
Mona Treude, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel
Gastautor: Stefan Rostock,
Bereichsleiter Bildung für nachhaltige Entwicklung bei Germanwatch
& NRW-Fachpromotor für Klima & Entwicklung
Fußnoten
- Umweltbundesamt. (2020). Zukunft? Jugend fragen! (S. 1–47). https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publikationen/zukunft_jugend_fragen_broschuere_bf.pdf
- Bertelsmann Stiftung. (2018). Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Vielfaeltige_Demokratie_gestalten/Buergerbeteiligung_Volksabstimmungen_Parlamentsentscheidungen.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023)
- Rudolf, R., & Bethmann, D. (2023). The Paradox of Wealthy Nations’ Low Adolescent Life Satisfaction. Journal of Happiness Studies, 24(1), 79–105. https://doi.org/10.1007/s10902-022-00595-2
- “Wahlverhalten nach Altersgruppen”. (2021, September 26). https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/charts/umfrage-alter/chart_875440.shtml (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023) und “Welche Themen entscheiden die Wahl?” (2021, September 26). https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
- IT NRW (2022). Bevölkerungsentwicklung 2021 bis 2070 nach Altersgruppen am 1. Januar. https://www.it.nrw/statistik/eckdaten/bevoelkerungsentwicklung-nach-altersgruppen-am-1-januar-324 (zuletzt aufgerufen am 14.09.2023).
- European Parliament. Directorate General for Parliamentary Research Services. (2022). Demografischer Ausblick für die Europäische Union 2022. Publications Office. https://data.europa.eu/doi/10.2861/692156 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
- European Parliament. Directorate General for Parliamentary Research Services. (2022). Demografischer Ausblick für die Europäische Union 2022. Publications Office. https://data.europa.eu/doi/10.2861/692156 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
- Statista (2023): Durchschnittsalter der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen bis 2021. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1094133/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-nordrhein-westfalen/ (zuletzt aufgerufen am 14.09.2023).
- Bertelsmann Stiftung (2018). Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen. Empfehlungen und Praxisbeispiele für ein gutes Zusammenspiel in der Vielfältigen Demokratie. Allianz Vielfältige Demokratie. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Vielfaeltige_Demokratie_gestalten/Buergerbeteiligung_Volksabstimmungen_Parlamentsentscheidungen.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
- MUNV NRW, (Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. (2023, August 1). Zahl der Woche: Hoher ökologischer Fußabruck durch Ressourcenverbrauch. https://www.umwelt.nrw.de/presse/detail/zahl-der-woche-hoher-oekologischer-fussabdruck-durch-ressourcenverbrauch-1690874143 (zuletzt aufgerufen am 04.09.2023).
- Statista (2023): Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen bis 2022. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3176/umfrage/wahlbeteiligung-bei-den-landtagswahlen-in-nordrhein-westfalen-seit-1950/ (zuletzt aufgerufen am 14.9.2023)