Gendergerechtigkeit im Strukturwandel

Gendergerechtigkeit im Strukturwandel

Eine feministische Perspektive kann helfen, den Strukturwandel gerechter zu gestalten, wenn wir beginnen, den Herausforderungen mit einer kollektiven Fürsorgepflicht zu begegnen, anstatt sie als technokratische Probleme lösen zu wollen.

Kinder laufen über ein Feld.

Foto von Vitolda Klein auf Pexels

seit einiger Zeit macht ein Buch mit einem recht polemischen Titel die Runde: “Männer, die die Welt verbrennen” von Christian Stöcker hat es sogar kurzzeitig auf die Spiegel Bestsellerliste geschafft. Einige Jahre vor ihm beschrieb die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett den Begriff “Petromaskulinität”, den technischen, affektiven, ideellen und materiellen Zusammenhang zwischen fossiler Wirtschaft und dem weißen Patriarchat.[1]
Egal, ob Sie diese Begriffe als sperrig empfinden oder sogar als angriffslustig, es lohnt sich, einmal mit einer feministischen Brille auf den Strukturwandel in Kohleregionen wie das Rheinische Revier zu schauen. In unserem Forschungsprojekt “CINTRAN” haben wir, unter anderem, genau das gemacht.

Unbezahlte Sorgearbeit als Bedingung für ökonomischen Erfolg

Setzt man diese Brille auf, wird schnell sichtbar: Der Diskurs über die Folgen des Kohleausstiegs und den notwendigen Strukturwandel fokussierte vor allem auf Branchen, die von Männern dominiert werden. Es ging meistens um die Arbeiter im Braunkohletagebau und in den angrenzenden, energieintensiven Industrien, deren gut bezahlte, tarifgebundene und von Mitbestimmung geprägte Jobs durch den Ausstieg in Gefahr gerieten. Keine der verfügbaren Studien zu den Arbeitsplatzauswirkungen des Kohleausstiegs erhebt überhaupt, ob und wie viele Jobs von Frauen direkt oder indirekt von der Braunkohleverstromung abhängig waren oder sind.
Schaut man sich im Gleichstellungsatlas die Daten für NRW an, dann gibt es viele Indizien dafür, dass im Rheinischen Revier die Erwerbstätigenquote von Frauen und vor allem Müttern insgesamt niedrig ist, Frauen mehr unbezahlte Sorgearbeit übernehmen und zu einem größeren Anteil in den Sorgearbeits-Berufen tätig sind. Die traditionelle Rollenverteilung wird zwar seltener, ist aber immer noch deutlich sichtbar. Das heißt auch, dass der ökonomische Erfolg der Kohleregion ohne unbezahlte Sorgearbeit von Frauen nicht in dieser Form möglich gewesen wäre.

Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel

Neues Policy Paper “Caring for carbon-intensive regions in transition

Das Europäische Forschungsprojekt “CINTRAN” hat seit Mai 2020 untersucht, welche Dynamiken und Muster beim Strukturwandel in Regionen zu beobachten sind. Es ging unter anderem um die Fragen, was Regionen mehr oder weniger vulnerabel macht und wie politische Antworten aussehen könnten. Vier Regionen in Europa – darunter das Rheinische Revier – wurden genauer untersucht, wobei auch Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Rechtspopulismus adressiert wurden.

Geschlechtergerechtigkeit als Chance im Strukturwandel

Der Strukturwandel im Rheinischen Revier kann daher auch als eine Chance betrachtet werden, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verbessern. Dafür müsste die Strukturpolitik allerdings eine Reihe von Maßnahmen beinhalten, die derzeit weniger im Fokus stehen:

  • Strukturpolitik im Rheinischen Revier sollte stärker die von Frauen dominierten Branchen in den Fokus nehmen, dort für bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen sorgen (z. B. Erziehungsberufe, Pflegeberufe, etc.)
  • Strukturpolitik sollte mehr in die soziale Infrastruktur investieren – nicht nur in Form von Beton, sondern auch in Form von zusätzlichen Stellen und Angeboten für die Menschen im Revier
  • Strukturpolitik sollte für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Entscheidungsprozessen sorgen. Dafür braucht es ggf. neue Formate, die sich auch an Menschen wenden, die sich nur außerhalb der üblichen Geschäftszeiten engagieren können.
  • Strukturpolitik sollte auch den proaktiven Umgang mit entstehenden Konflikten in der Region und die Unterstützung für Haushalte in schwierigen Lagen adressieren.

Dabei gehen wir davon aus, dass diese und weitere Maßnahmen, die weniger auf die Schaffung von Arbeitsplätzen in Industrie, Forschung und Entwicklung abzielen, gleichzeitig einen wertvollen Beitrag zur Attraktivität der Region leisten und damit die gefürchtete Abwanderung von Fachkräften und junge Menschen abfedern könnte.

Strukturwandel ist Sorgearbeit

Der Strukturwandel wird häufig als technisches oder zumindest technokratisches Problem gesehen, das man nur analysieren muss und dann mit passenden Projekten in einem vorgegebenen Budget und Zeitrahmen lösen kann. Im Austausch mit Stakeholdern aus verschiedenen europäischen Kohleregionen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass eine solche Problemlösungs-Logik zu kurz greift und wir hin müssen zu einer Fürsorge-Logik.
Gemeinsam konnten wir der Analogie viel abgewinnen, den Strukturwandel mit der Erziehung von Kindern zu vergleichen. Wie Eltern gegenüber ihrer Kinder hat der Staat hat eine Pflicht, sich um die Strukturwandelregionen und die Menschen dort im wahrsten Sinne des Wortes zu kümmern. Strukturwandel braucht auch emotionale Arbeit. Gerechter Strukturwandel kann nur gelingen, wenn sich die Akteure gegenseitig vertrauen, genau wie in einer gesunden Beziehung zwischen Eltern und Kind. Und wie bei der Sorge für heranwachsende Kinder muss man auch in gewissem Maße Fehler und Scheitern zulassen. Und wie bei Kindern gilt, wenn es einer Region schlecht geht, benötigt sie mehr Zuwendung, das Projekt Strukturwandel einfach abzubrechen ist keine Option.

Lukas Hermwillle, Forschungsbereichsleiter
Transformative Industriepolitik

Fußnoten

  1. Daggett, Clara (2018): Petro-masculinity: Fossil Fuels and Authoritarian Desire, in: Millenium 47 (1), S. 25-44, DOI: https://doi.org/10.1177/0305829818775817.

Kommentar: Keine Renaissance der Atomkraft

Kommentar: Keine Renaissance der Atomkraft

Derzeit wird von verschiedenster Seite in Deutschland der Ruf nach einem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie – zur Beschleunigung des Klimaschutzes, so die Argumentation – laut. Manfred Fischedick sagt: „Die Kernenergie kann aus heutiger Sicht keinen substantiellen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten.“

Portrait von Manfred Fischedick

Foto: Wuppertal Institut

Die mit dem kriegerischen Übergriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ausgelöste Debatte um die Versorgungssicherheit wird von den Befürwortern der Kernenergie als weiteres Argument angeführt. Auf der europäischen Ebene hat die Einbindung der Kernenergie in die EU-Taxonomie und die damit verbundene Einordnung als nachhaltige Investitionen für große Aufmerksamkeit und Kontroversen gesorgt. Selbst wenn zentrale Fragen wie Restrisiko, ungeklärte Endlagerung und Proliferation zunächst außer Acht gelassen werden würden, dann gibt es zu jedem der drei möglichen Ansätze (Verlängerung der Laufzeit, Neubau von Kernkraftwerken und Einsatz von sogenannten Small Modular Reactors) zum Ausstieg aus dem Ausstieg jeweils handfeste wirtschaftliche und sicherheitstechnische Gegenargumente.

Gegenargumente

Erstens ist eine Verlängerung der Laufzeit bestehender Atomkraftwerke in Deutschland insofern unrealistisch, da eine substantielle Verlängerung, im Vergleich zum 2011 beschlossenen Ausstiegsfahrplan, zu ganz erheblichen Kosten für Ertüchtigung und gegebenenfalls sogar sicherheitstechnische Nachrüstung der Kraftwerke führen würde. [1] Darüber hinaus haben alle Kernkraftwerksbetreiber unisono signalisiert, dass sie an einer Laufzeitverlängerung keinerlei Interesse und ihre Investitionsprioritäten längst auf den Ausbau erneuerbarer Energien umgestellt haben.[2]

Zweitens zeigt das finnische Beispiel – Olkiluoto 3 – für den Neubau von Kernkraftwerken, dass gewachsene Sicherheitsbedenken und Schwierigkeiten beim Bau nicht nur den Planungs- und Errichtungszeitraum dramatisch verlängern, sondern auch die ursprünglichen Kosten vervielfachen. [3] Ähnlich in Flamanville in Frankreich, wo die Baukosten sich gegenüber der ursprünglichen Kalkulation vermutlich versechsfachen werden.

12,5 Jahre

Verzögerung

sind laut World Nuclear Industry Status Report bei aktuellen Projekten zum Bau von Atomktraftwerken im Durchschnitt zu ertwarten. #LINK#

Drittens ist der kommerzielle Einsatz von sogenannten Small Modular Reactors, das heißt kleinen und modularen Reaktoren, bei einigen Technologieansätzen noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entfernt und ihre sinnvolle Einsetzbarkeit grundsätzlich fraglich: Individuell betrachtet haben SMR durch das geringere radioaktive Inventar zwar einen sicherheitstechnischen Vorteil, dieser werde aber, so eine Studie für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), durch die geplante Errichtung in räumlicher Nähe zu Endverbraucher*-innen sowie die notwendige, große Anzahl an Reaktoren für eine substantielle Leistungsrealisierung aufgehoben. Und auch ihre Wirtschaftlichkeit könne nur durch den Verzicht auf die Diversität von Sicherheitssystemen erreicht werden.[4] Nicht zuletzt ist die Überwachung einer ausschließlich zivilen Nutzung des radioaktiven Materials durch die Internationale Atomenergiebehörde bei einer derartigen Dezentralisierung nicht sicherzustellen.

Fazit

In der Zusammenschau lässt sich festhalten: Die Kernenergie kann aus heutiger Sicht keinen substantiellen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten. Sie ist ökonomisch alternativen Optionen – wie den erneuerbaren Energien – unterlegen, mit hohen Betriebsrisiken verbunden sowie mit einer ungeklärten Endlagerfrage und Proliferationsrisiken konfrontiert. Vor allem aber ist sie mit derart hohen Vorlaufzeiten verbunden, dass sie als Lösungsoption für den Klimaschutz zu spät käme. Im Gegenteil, wer heute die Debatte um die Kernenergie anfeuert, erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst: Das „Heilsversprechen“ läuft Gefahr dazu beizutragen, den Aufbau nachhaltiger, auf erneuerbaren Energien basierender Strukturen abzubremsen. 

Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick
Präsdient und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts

Fußnoten

  1. Ludwig, Thomas (2021): Brauchen wir die Atomkraft doch länger? Kölnische Rundschau, online unter: https://www.rundschau-online.de/news/politik/rundschau-debatte-des-tages-brauchen-wir-die-atomkraft-doch-laenger– 39123478?cb=1639137591021& (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021)
  2. Flauger, Jürgen & Kathrin Witsch (2021): „Kernenergie hat sich für Deutschland erledigt“ – Warum die Energiekonzerne keine Rückkehr der Atomkraft wollen. Handelsblatt, online unter: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/energiewende-kernenergie-hat-sich-fuer-deutschland-erledigt-warum-die-energiekonzerne-keine-rueckkehr-der-atomkraft-wollen/27781670.html?ticket=ST-6193505-bAuRLrPLwqEDUuems36I-cas01.example.org (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  3. Gislam, Steven (2021): After Long Delays Europe’s Largest Nuclear Reactor Gets Go-Ahead In Finland, online unter: https://industryeurope.com/sectors/energy-utilities/after-long-delays-europes-largest-nuclear-reactor-gets-go-ahead/ (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).
  4. Pistner, Christopf et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors), online unter: https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/berichte/kt/gutachten-small-modular-reactors.pdf;jsessionid=7E81BD2EF79AC66D8A24CFD976F2A800.1_cid349?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021).

Steigende Energiepreise

Steigende Energiepreise

Die Politik muss Maßnahmen ergreifen um die langfristige Vulnerabilität von Haushalten gegenüber steigenden Energiekosten zu reduzieren und die Wärme- und Verkehrswende vorantreiben.

Diagramm: Entwicklung der Erdgaspreise (Neuverträge) in Cent/kWh für Haushalte in Mehrfamilienhäusern in Deutschland, Daten auf Basis der BDEW-Gaspreisanalysen

Eigene Darstellung basierend auf den Zahlen der BDEW-Gaspreisanalyse Januar 2022

Die steigenden Energiepreise machen den Bürger*innen, der Politik und der Wirtschaft bereits seit Monaten Sorgen. Der Krieg in der Ukraine und die nun deutlich hervortretende Abhängigkeit von fossilen Energieimporten verschärfen diese Sorgen weiterhin. Es sind insbesondere armutsgefährdete und arme Haushalte, für die steigende Treibstoff-, Heiz- und Stromkosten eine erhebliche Belastung darstellen. Bereits 2019 waren z. B. 48,3 % der armutsgefährdeten und 8 % der nicht-armutsgefährdeten Haushalte durch ihre Wohnkosten überbelastet.[1]

Politische Sofortmaßnahmen, wie das kürzlich von der Bundesregierung beschlossene Entlastungspaket [2] sowie der bereits Anfang Februar beschlossene Heizkostenzuschuss [3] können wichtige, kurzfristige Wirkungen entfalten. Aber sie reduzieren die mittel- und langfristige Vulnerabilität von Haushalten nicht. Vielmehr müssen die Wärmewende [4] und Verkehrswende [5] strukturell beschleunigt werden, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und -importen zu reduzieren und den Klimaschutz voran zu treiben. Gerade weil sich durch die aktuelle, geopolitische Situation kurzfristig negative Effekte von Energieversorgungsmaßnahmen auf die Energiewende und den Klimaschutz wahrscheinlich nicht verhindern lassen, müssen diese mittelfristig „durch ein höheres Dekarbonisierungstempo durch den Ausbau erneuerbarer Energien“ ausgeglichen werden.[6]

Die Landesregierung NRW könnte ergänzend zu den bundespolitischen Maßnahmen in Bezug auf verhaltensbezogene Einsparungspotenziale tätig werden. Vereinzelt werden entsprechende Maßnahmen derzeit bereits diskutiert, so z. B. die Reduzierung von Heiztemperaturen. Die Landesregierung könnte die Bürger*innen bei der Anwendung solche Maßnahmen durch niedrigschwellige Informationen und konkrete Alltagsempfehlungen unterstützen. Darüber hinaus kann sie ihr eigenes Instrumentarium hinsichtlich der Schaffung von Anreizstrukturen für suffizientes Verhalten prüfen.

Michaela Roelfes, Senior Researcherin
im Forschungsbereich Stadtwandel

Fußnoten

  1. Statistisches Bundesamt (2021): Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Daten zum Indikatorenbericht 2021, online unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Publikationen/Downloads-Nachhaltigkeit/ indikatoren-5850013219004.pdf;jsessionid=91979B6B95FDDBB2F623206D0D85A7DC.live741?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 21.12.2021)
  2. Bundesministerium der Finanzen (2022): Schnelle und spürbare Entlastungen. Pressemitteilung, online unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Entlastungen/schnelle-spuerbare-entlastungen.html (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  3. Bundesregierung (2022): Höherer Heizkostenzuschuss beschlossen, online unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/heizkostenzuschuss-2002324 (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022)
  4. Thomas, Stefan et al. (2022): Heizen ohne Öl und Gas bis 2035. Ein Sofortprogramm für erneuerbare Wärme und effiziente Gebäude, online unter: https://www.greenpeace.de/publikationen/Heizen%20ohne%20Öl%20und%20Gas%20bis%202035.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
  5. Koska, Thorsten et al. (2021): Klimapaket Autoverkehr. Mit welchen Maßnahmen der PKW-Verkehr in Deutschland auf Klimakurs kommt, online unter: https://www.greenpeace.de/publikationen/20210816_gpd_klimapaket.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022)
  6. Fischedick, Manfred (2022): Energieversorgungsrisiken, Energiepreiskrise, Klimaschutzherausforderung. Wie sieht die Energieversorgung von morgen aus?, online unter: https://wupperinst.org/a/wi/a/s/ad/7665 (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).